Fast 100 Jahre hat es gedauert, bis jetzt endlich ein neues Kant-Lexikon erschienen ist, das auch die Kant-Forschung des 20. Jahrhunderts angemessen abbildet: Nun wurde das neue dreibändige Kant-Lexikon mit knapp 2400 Artikeln an der Goethe-Universität vorgestellt.
Insgesamt 15 Jahre haben die vier Herausgeber an diesem Mammutwerk gearbeitet, federführend war Marcus Willaschek, Philosophie-Professor an der Goethe-Universität. Weitere Herausgeber sind Prof. Dr. Jürgen Stolzenberg (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg), Prof. Dr. Georg Mohr (Universität Bremen) und Dr. Stefano Bacin (Università Vita-Salute, Mailand). 221 Autoren aus mehr als zwanzig Ländern haben ihre Artikel beigesteuert, erschienen ist das Mammutwerk im Verlag Walter de Gruyter.
„Das neue Lexikon“, so betont Willaschek, „will ein reines Hilfsmittel bei der Lektüre Kants sein. Es geht weder um eine Kanonisierung noch um eine Beurteilung Kants, auch wenn Interpretationsschwierigkeiten und -kontroversen durchaus berücksichtigt werden.“ Eng gebunden an Kants Terminologie soll es helfen, Kants Philosophieren, gewissermaßen seine philosophische Praxis, zu begreifen. Auch Kants naturwissenschaftliches Werk wird ausführlich berücksichtigt. Bei Marcus Willaschek selbst haben die Lektüre der vielen Artikel und die jahrelange intensive redaktionelle Arbeit die zuvor schon vorhandene Bewunderung für Kant noch einmal gesteigert: „Ich schätze ihn nicht nur wegen seiner Breite, mehr noch wegen seiner Tiefe, in dem Sinne, dass er Probleme bis in ihre Grundlagen konsequent zu Ende denkt.“
Willaschek, ein international renommierter Kant-Kenner, hat sich bereits seit dem fünften Semester seines Philosophie-Studiums mit dem Königsberger Philosophen und seinen Schriften auseinandergesetzt, 1991 promovierte er über „Praktische Vernunft, Handlungstheorie und Moralbegründung bei Kant“. Seit 2003 hat Willaschek die Professur für Philosophie der Neuzeit an der Goethe-Universität inne. Seit 2012 gehört er dem erweiterten Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Philosophie an und ist stellvertretender Vorsitzender der Kant-Kommission der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
Beschlossen auf dem Kant-Kongress des Jahres 2000, sollte das neue Kant-Lexikon eigentlich fünf Jahre später beim nächsten Kongress der Kantianer vorliegen. Doch dann wurden es insgesamt 15 Jahre. Das 1930 erschienene bisher wichtigste und erfolgreichste Kant-Lexikon von Rudolf Eisler, der das Werk bereits 1916 abgeschlossen hatte, war das kompakte 650-seitige Werk eines Einzelnen, das zu einer Fülle von Stichworten vorwiegend Kant-Zitate versammelte. Das neue Kant-Lexikon ist ein Kollektivwerk. Die Initiative ging vom Wissenschaftsverlag Walter de Gruyter aus, die Fritz-Thyssen-Stiftung förderte das Projekt, und so nahmen im Sommer 2000 zunächst drei Philosophie-Professoren und Kant-Experten die Arbeit auf. 2010 wurde ein weiterer Kant-Kenner als vierter Herausgeber hinzugezogen: Stefano Bacin von der Mailänder Università Vita-Salute. Der schiere Umfang, den das Projekt mit Artikeln zu Kantischen Termini und Schriften sowie zu für Kant bedeutsamen Personen angenommen hatte, machte das nötig.
Bevor die Herausgeber an die Verteilung der Artikel gingen, verwandten sie viel Zeit darauf, die Stichworte festzulegen. Und diese Seite ihrer Tätigkeit hörte nie ganz auf. „Bis zuletzt kam es vor, dass ein Artikel als überflüssig verworfen, ein anderer als relevant erkannt wurde“, berichtet Willaschek. Sie bündelten zumeist zehn thematisch zusammenhängende Artikel – einen großen, zwei oder drei mittelgroße und einige kleinere, um nicht auf den kleinen und philosophisch wenig relevant scheinenden sitzen zu bleiben. „Denn gerade diese machen deutlich“, findet Willaschek, „was alles für Kant tatsächlich philosophische Relevanz hatte.“ Er nennt als ein Beispiel „Treibholz“: „Indem es sogar auf baumlosen Inseln den Bau von Häusern ermöglicht, zeugt es im Rahmen von Kants geschichtsphilosophischen Überlegungen davon, dass die Natur menschliche Ausbreitung begünstigt.“
Für Willaschek ist Kant nicht nur ein großer Philosoph, sondern auch ein großartiger Schriftsteller. Faulheit sei „der Hang zur Ruhe ohne vorhergehende Arbeit bei gesundem Zustand“ ist eines der zahllosen Beispiele für Kant als Meister der Definition – „eine Meisterschaft, die die Frucht einer Kombination von Betrachtung, Selbstdenken und differenziertem Ausdruck ist“, so der Frankfurter Philosophie-Professor. Auch einen Meister sloganartiger Formulierungen, die eine komplizierte Sache knapp auf den Punkt bringen, sieht Willaschek in Kant. „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“ aus Kants „Kritik der reinen Vernunft“ ist eines von vielen Beispielen.
Solche schlagenden Formulierungen ändern natürlich nichts daran, dass Kant, vor allem der Kant der großen kritischen Werke, keine leichte Lektüre ist. Deshalb wird das neue Kant-Lexikon auch nach über zwei Jahrhunderten Kant-Lektüre und Beschäftigung mit ihm noch neue Erkenntnisse und Interpretationen zu Tage fördern. Wo es um die philosophische und wissenschaftliche Bedeutung der Kantischen Terminologie geht, stellt das neue Lexikon alles Bisherige dadurch in den Schatten, dass es Kants Terminologie auf der Grundlage aktueller Text-Editionen und unter Berücksichtigung aktueller Kant-Forschung umfassend erschließt.
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Informationen: Prof. Dr. Marcus Willaschek, Institut für Philosophie, Campus Westend, Tel. 069/798-32678, willaschek@em.uni-frankfurt.de
Marcus Willaschek/Jürgen Stolzenberg/Georg Mohr/Stefano Bacin (Herausgeber): Kant-Lexikon, Berlin 2015, 3 Bände, 2800 Seiten, Ladenpreis der gebundenen Ausgabe: 349 Euro, Subskriptionspreis bis 31. Dezember 2015: 249 Euro, ISBN: 978-3-11-017259-1
Lese-Tipp: In der nächsten Ausgabe des Wissenschaftsmagazin „Forschung Frankfurt“ (2/2015) erscheint ein längerer Beitrag von Dr. Rolf Wiggershaus über das Kant-Lexikon.
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