EU-Forschungsförderung: Wie lassen sich die Geistes- und Sozialwissenschaften stärken?

Abschließender Empfang auf der Dachterrasse der Hessischen Landesvertretung in Brüssel

Die Goethe-Universität war Mitausrichterin der Veranstaltung „New Horizons: Research on Societies in Future European Research Funding“, die am 27. September 2018 in der Hessischen Landesvertretung in Brüssel stattfand. Gemeinschaftlich organisiert wird die Veranstaltung durch die zunächst von einigen wenigen deutschen EU-Referenten ins Leben gerufene Initiative ROSE: Research on Societies in Europe, die sich für die Stärkung der Sozial-, Wirtschafts-, und Geisteswissenschaften in den EU-Forschungsprogrammen einsetzt. Die Goethe-Universität ist über ihr EU-Referat Mitglied der Initiative.

Horizont Europa: Entwurf zeigt auch Schwachpunkte

Mittlerweile hat die Initiative viel Aufmerksamkeit auch in Brüsseler Kreisen erlangt und mit der Veranstaltung zum intensiven Austausch geladen. Ziel von ROSE ist es, die Rolle der Geistes-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften im zukünftigen Rahmenprogramm für Forschung und Innovation „Horizont Europa“ zu diskutieren, zu dessen Ausgestaltung die Kommission im Juni 2018 einen ersten Entwurf vorgelegt hatte. „Der Entwurf adressiert im Bereich der Gesellschaftsforschung einige sehr wichtige Themen, wie ‚Demokratie‘ oder ‚soziale Inklusion‘, aber er zeigt auch eine Reihe von Schwachpunkten. Dazu gehören das Fehlen bildungs- und erziehungswissenschaftlicher Themen, die Zusammenführung der Gesellschafts- mit der Sicherheitsforschung, eine unausgewogene Budgetverteilung, und ein viel zu technologiegetriebener Ansatz in allen Programmbereichen“, so das Organisationsteam.

Das große Interesse an den Veranstaltungsthemen ließ sich schon an der hochrangig besetzten Gästeliste ablesen. An den insgesamt drei Diskussionsrunden des Tages beteiligen sich unter anderem eine Vielzahl von Wissenschaftlern unterschiedlichster Disziplinen, Vertreter der Hochschulrektorenkonferenz, Hochschulleitungen aus Mainz, Mannheim und Frankfurt/Oder, Multiplikatoren, der Programmausschuss der sechsten Gesellschaftlichen Herausforderung in Horizont 2020, EASSH, EARMA, KOWI, die Nationale Kontaktstelle Gesellschaft, die Leibniz-Gemeinschaft, zwei Generaldirektionen der Europäischen Kommission und der Europäische Forschungsrat.

Gesellschaftliche Herausforderungen brauchen Expertise der Sozial- und Geisteswissenschaften

Bereits in drei Key Notes von Seiten der Wissenschaft wurde klar: Europa steht vor großen Herausforderungen, denen es nur begegnen kann, wenn es ein Umdenken auch in der Forschungspolitik gibt. Der sehr stark technologiegetriebene Ansatz in allen Programmbereichen muss nach Meinung vieler Anwesenden neu überdacht und gegebenenfalls der Begriff des Impact neu definiert werden. Die Ausführungen von Harald Hartung (Europäische Kommission, Generaldirektion Forschung) zum „Horizont Europa“ und Statements von Loukas Stemitsiotis (Europäische Kommission, Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und Integration) sowie Alice Xenia Rajewsky (ERC Exekutivagentur) machten deutlich, wie sehr auch der Kommission bewusst ist, dass sich einige hochaktuelle gesellschaftliche Herausforderungen nicht ohne eine starke Beteiligung der Sozial- und Geisteswissenschaften werden lösen lassen und dass es zudem mehr Synergien zwischen verschiedenen Förderprogrammen der Europäischen Kommission geben sollte.

Kontrovers diskutiert wurde der Mehrwert der von der Kommission vorgeschlagenen Zusammenführung der Gesellschafts- und Sicherheitsforschung in einem gemeinsamen Cluster in „Horizont Europa“. Viele der teilnehmenden Wissenschaftler sahen hierin eine echte Gefahr; noch dazu, weil das geringe Gesamtbudget von nur 2,8 Milliarden für diesen gemeinsame Cluster es sozusagen zu einem Juniorpartner im Rahmen der zweiten Programmsäule machen würde.

Weitere Themen des Tages waren der Impact von geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschung, eine Verbesserung der Außenkommunikation und -wirkung von Projekten in diesen Forschungsfeldfeldern in die Gesellschaft hinein, die zukünftige Rolle der sogenannten SSH (Social Sciences and Humanities) in Forschungsverbünden, ihr Eigenverständnis und ihre Wahrnehmung in der wissenschaftlichen Community.

Am Ende des Tages fasste Peter Fisch, früher bei der Europäischen Kommission tätig und Moderator der Veranstaltung, die Ergebnisse des Tages wie folgt zusammen:

  • Wie auch alle anderen Programmbereiche, muss der Teilbereich, der sich mit den gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit befasst, mit einem adäquaten Budget ausgestattet sein. Das bildet der bisherige Entwurf für Horizont 2020 noch nicht ausreichend ab.
  • Die wissenschaftliche Community ist sich bewusst, dass sie die Ergebnisse der Forschung noch besser in die Gesellschaft hineintragen muss und es einer größeren Impact-Orientierung bedarf.
  • Gleichzeitig müssen die SSH einerseits ein größeres Selbstverständnis entwickeln. Sie dürfen andererseits nicht länger als „kleiner Bruder der echten Forschung“ oder als Hilfswissenschaften verstanden werden.
  • Bei der Konzeption und Implementierung von Projekten muss es ein Umdenken geben. Ziel kann nicht die einfache Integration von einigen wenigen Geistes- und Sozialwissenschaftlern in vorranging technologiegetriebene Projekten sein. Um den Impact der Forschung zu maximieren, braucht es Kooperation auf Augenhöhe in Verbundprojekten und eine verstärkte Übernahme der Koordination von gesellschaftsrelevanten Projekten durch die Disziplinen, die sich vorranging auch mit den Inhalten auseinandersetzen.
  • Forschung braucht einen Wandel im Bewusstsein und eine Entwicklung weg vom starren Denken in Disziplinen hin zu einer größeren Orientierung an den Problemen, die es zu lösen gilt.

Zur Implementierung dieses neuen Ansatzes braucht es neue Förderlinien, die gezielt Interdisziplinarität befördern, z.B. zur Etablierung neuer Konsortien oder zur Vernetzung von bestehenden Projekten.

Zum Schluss ist allen bewusst: Der Dialog kann und darf selbstverständlich nicht mit diesen Forderungen stehen bleiben, hier ist erst ein weiterer kleiner Schritt getan. Es braucht neue Denkmuster auf beiden Seiten, die Wissenschaftler müssen sich verstärkt in die Gestaltungsprozesse europäischer Förderprogramme einbinden, mehr Lobbyarbeit für sich selbst betreiben, und in einen intensiveren Austausch zum Beispiel mit der Europäischen Kommission treten. Die Möglichkeiten dafür seien vielfältig, so Harald Hartung, sei es über Konsultationen, Lobbyorganisationen, die eigenen Ländervertretungen oder die Mitglieder des Europäischen Parlaments. Und genau dafür möchte ROSE auch zukünftig eine Plattform bieten. Eine erste Gelegenheit für einen weiteren informellen Austausch bot sich gleich im Anschluss an die Veranstaltung bei einem kleinen Empfang auf der Dachterrasse der Hessischen Landesvertretung.

[Autorinnen: Dr. Nicole Birkle, EU-Referentin Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Kristina Wege, EU-Referentin Goethe-Universität Frankfurt]

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Das Büro Brüssel der Goethe-Universität befindet sich in der Hessischen Landesvertretung im Europaviertel in unmittelbarer Nähe zur Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Forschungsrat (ERC). Die Räumlichkeiten in der Landesvertretung stehen kostenfrei für dienstliche Aktivitäten von Mitgliedern der Goethe-Universität zur Verfügung, beispielsweise für Treffen zur Anbahnung von EU-Projektanträgen oder für Tagungen und Workshops mit europäischer oder internationaler Beteiligung.

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