Kleine Wort- und Kulturgeschichte des Messens

Das Verb »messen« ist ein altehrwürdiges Wort, dessen Lebensweg sich weit zurückverfolgen lässt. Wollen wir uns ihm gemessenen Schrittes nähern, ohne dabei anmaßend zu sein: Die Wortfamilie »messen, Maß, vermessen« kann hier nur skizziert werden; sie hat viele Mitglieder, ihre Vielfalt ist schier unermesslich – was sich nicht zuletzt in zahlreichen Redewendungen offenbart.

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• »messen« ist ein Wort mit Geschichte, sie reicht bis ins Indoeuropäische zurück. Über das Urgermanische wurde es in die germanischen Sprachen weitergereicht und ist im Gotischen als »mitan«, im Altnordischen als »meta« und im Althochdeutschen als »mez˛an« belegt. Ein Wort, das quasi zum Grundinventar einer Sprache gehört, muss von elementarer Bedeutung sein. Im Wörterbuch der Brüder Grimm wird es nicht umsonst als »altes hauswort« bezeichnet.
• Das Wort »messen« ist sowohl in der Alltagssprache als auch in vielen Fachsprachen unverzichtbar und vielfältig einsetzbar – sowohl was die Wortbildung angeht als auch seine Rolle im Satz. Der Bedeutungskern bleibt dabei stets das Quantifizierende, Vergleichende.
• Das Substantiv »Maß« ist eng verwandt, es stellt eine Verschmelzung des mittelhochdeutschen Neutrums »mez˛« (Maß, womit gemessen wird) und des mittelhochdeutschen Femininums »māz˛e« (angemessene Menge) dar. Die weibliche Form ist heute noch in bayerischen Biergärten zu hören.
• Beim Messen verlässt sich der Mensch seit Jahrtausenden nicht mehr allein auf seine Sinnesorgane, sondern schafft immer neue Instrumente und Kategorien. Ohne eine Verständigung über „das rechte Maß“ hat Messen jedoch wenig Sinn. Früher war die Verständigung darüber kleinräumig, heute ist sie grenzüberschreitend, wenn auch nicht weltweit einheitlich.
• Wie wichtig das Messen für den Menschen ist, zeigt sich auch in zahlreichen Phraseologismen: ein gerüttelt Maß von/an, das Maß ist voll, mit zweierlei Maß messen usw.[/vc_toggle]

Messen – die Geschichte dieses Wortes reicht wohl bis ins Indoeuropäische zurück, zumindest lassen das dem Grimm‘schen Wörterbuch zufolge urverwandte Wörter im Griechischen und Lateinischen vermuten. Die hypothetische Sprachgemeinschaft der Indoeuropäer wird zeitlich um 3000 bis 4000 v. Chr. verortet. Über das Urgermanische (2. Jahrtausend v. Chr.), das ebenfalls nur als Hypothese existiert, lebt es in den germanischen Sprachen weiter und ist unter anderem im Gotischen als »mitan«, im Altnordischen als »meta« und im Althochdeutschen als »mez˛an« belegt.

Ein Wort, das quasi zum Grundinventar einer Sprache gehört – das kann nur ein Wort sein, dessen Inhalt für den Menschen sehr wichtig ist. Oder wie es die Grimms ausdrücken: »ein altes hauswort«, dessen ursprüngliche Bedeutung sie mit dem »zutheilen bestimmter mengen des zum leben und zur kleidung notwendigen an die glieder eines haushalts« angeben, die Bedeutung »des zumessens und hinreichens« sei folglich die älteste, »auf grund deren andere zur entfaltung gelangen«.

Für das Althochdeutsche, das im Mittelalter zwischen 750 und 1050 n. Chr. gesprochen wurde und das die älteste schriftlich dokumentierte Form der hochdeutschen Sprache darstellt, werden dem Wort »mez˛an« zahlreiche Bedeutungen beigemessen: messen, wiegen, schätzen, zählen, vergleichen, zumessen, abmessen, aber auch abwiegen und abschließen. Über das mittelhochdeutsche Wort »mez˛ z˛ en« wurde es dann zu unserem heutigen Verb »messen«, dessen Wortstamm sich in zahlreichen anderen Wörtern und Redewendungen verwirklicht hat. Ein Wort, das mit Fug als »Allrounder« bezeichnet werden kann, der sowohl in der Alltagssprache als auch in vielen Fachsprachen unverzichtbar ist. Seinen Bedeutungskern behält es dabei stets bei: das Quantifizierende, Vergleichende.

Das Verb »messen« selbst kann transitiv, intransitiv und auch reflexiv verwendet werden. Wenn jemand etwas misst (transitiv), bestimmt er eine bestimmte Größe mit einem bestimmten Maß – also die Länge eines Tischs mit einem Zollstock, die Temperatur des Schwimmbads mit einem Thermometer, die Menge einer Flüssigkeit für eine Sauce mit einem Messbecher und so weiter. Wer 1,90 misst (intransitiv), ist zweifellos ein großer Mensch und kann sich darin durchaus mit anderen messen (reflexiv). Er kann sich aber auch in anderen Eigenschaften mit anderen messen und vergleicht sich in Leistung, Können oder Eigenschaften in derselben Kategorie mit anderen.

Das Substantiv »Maß« ist eng verwandt mit der Sippe von »messen«, und sein heutiges Bedeutungsspektrum lässt sich unter anderem erklären durch den sprachhistorischen Umstand, dass darin die beiden mittelhochdeutschen Wörter »maz˛e« und »mez˛ « gewissermaßen zusammengewachsen sind: Das Neutrum »mez˛ « einerseits stand für »Maß, womit gemessen wird, Ausdehnung, Richtung, Ziel«, das Femininum »ma¯ z˛e« andererseits für Maß, angemessene Menge, richtig gemessene Größe, abgegrenzte Ausdehnung, Zeit, Gewicht, Kraft, Art und Weise, das Maßhalten.

Das heutige »Maß« ist ein Neutrum, als Femininum lebt das Wort vor allem in Bayern fort, wo man auch heute noch im Biergarten nach einer Maß Bier verlangt – aber auch in Verbindungen wie »in Maßen, über alle Maßen«, die eine feminine Flexion aufweisen, ebenso Bildungen wie »dermaßen« oder »gleichermaßen«, wobei »-maßen« zum Ableitungssuffix wurde. Besonders produktiv in dieser Funktion ist das Suffix »-mäßig«, das soviel heißt wie entsprechend. Für Geräte zum Messen wird im modernen Deutsch gern die Substantivierung des Verbs verwendet:

Drehzahlmesser, Höhenmesser, Gradmesser. Etymologisch nicht verwandt mit dem Verb messen ist das Neutrum Messer in der Bedeutung eines Geräts zum Schneiden, das ursprünglich aus zwei Bestandteilen zusammengesetzt war. Ebenso wenig das Femininum Masse, das auf eine Entlehnung aus dem Lateinischen zurückgeht. Der Mensch ist das Maß aller Dinge: Dieser philosophische Lehrsatz, der ursprünglich aus der Feder des Sophisten Protagoras (um 481 bis 411 v. Chr.) stammt und durch Platon überliefert wurde, wurde als »Homo-mensura-Satz« berühmt.

Beim Messen ist der Mensch sich selbst auf jeden Fall das ursprüngliche Maß, auf das alles zurückgeht. Die menschlichen Sinnesorgane helfen dabei, Raum, Zeit und Klang zu messen. Auf ähnliche Art sind zwar auch Tiere zum Messen fähig: Die Gazelle muss die Entfernung zum hungrigen Löwen einschätzen, um rechtzeitig davonzulaufen, die Biene misst die Entfernung zum nächsten Blütenfeld – und teilt sie ihren Artgenossen über den Schwänzeltanz mit. Das alles ist jedoch instinktgebunden, und nur der Mensch strebt danach, den Sinneseindrücken etwas Objektivierbares zur Seite zu stellen. Dabei liegt es nahe, sich zunächst am eigenen Körper zu orientieren – was die Längenmaße Elle, Klafter und Fuß erkennen lassen.

Aber auch außerhalb seiner selbst wurde der Mensch früh fündig auf der Suche nach Maßstäben. Schon in der Zeit, als er noch als Jäger und Sammler unterwegs war, bedurfte es der Kulturtechnik des Messens, wie wir es heute verstehen: als Erfassen oder Zählen einer bestimmen Quantität – ganz unabhängig davon, ob es damals bereits ein Wort dafür gab. Wie archäologische Funde von Zählkerben in Tierknochen belegen, hat schon der Cro-Magnon-Mensch vor 40 000 Jahren gemessen und gezählt – und dabei Gerätschaften verwendet; wie er gesprochen hat, ist nicht überliefert.

Spätestens aber mit der Sesshaftigkeit wurde das Messen immer wichtiger: Als der Mensch zu Ackerbau und Viehzucht übergegangen war und nicht mehr »von der Hand in den Mund« lebte, brauchte es zumindest einigermaßen objektivierbare Möglichkeiten der Zuteilung von Getreide etwa. Die Menschen der Jungsteinzeit haben sich bei der Zeitmessung auf Himmelsbeobachtungen gestützt. Der Mensch misst, um die Welt zu erkennen – und um diese Erkenntnis mit anderen Menschen zu teilen, Schlüsse daraus zu ziehen, darüber zu verhandeln und so weiter.

Ohne einen Konsens zwischen den Menschen über die Art und Weise des Messens und über die benutzten Maßstäbe klappt das nicht. Dieser Konsens war früher noch nicht so weltumspannend wie heute, und selbst am gleichen Ort gab es oft unterschiedliche Auffassungen über »das rechte Maß«. Während wir heute ganz selbstverständlich mit allgemeingültigen Maßeinheiten wie Meter, Kilogramm oder Liter umgehen – wobei z. B. im Angelsächsischen andere Einheiten allgemeingültig sind –, gab es in früheren Zeiten nicht nur Unterschiede bei den Maßeinheiten.

Selbst wenn man dieselbe Einheit verwendete, hieß das noch lange nicht, dass dasselbe gemeint war. So verstand man unter einem Klafter (abgeleitet von einem untergangenen Verb mit der Bedeutung »umfassen, umarmen«) zwar stets die Spanne zwischen den ausgestreckten Armen eines erwachsenen Mannes, de facto bedeutete das in Bayern (1,75 m) aber etwas anderes als in Hessen (2,50 m) oder in Preußen (1,88 m). Ein anderes Beispiel ist die Elle, die Längeneinheit, die sich ebenfalls von den Abmessungen des menschlichen Körpers ableitet, nämlich von der Länge des Unterarmknochens.

Der eine Schneider hatte eine lange Elle, das andere Schneiderlein eine kurze – klar, dass hier Normierung nottat. Ein Konsens über die korrekte Länge einer Elle konnte jedoch nur kleinräumig erzielt werden, so dass die Länge von Stadt zu Stadt, von Region zu Region teils um einige Zentimeter schwankte. Sinnfällig wird dies beispielsweise an den Referenzgrößen, die an Kirchen und Rathäusern angebracht waren, zum Beispiel am Frankfurter Leinwandhaus (heute »caricatura museum«, Museum für Komische Kunst), am Freiburger Münster oder am Alten Rathaus Mannheim:

Im Südbadischen war eine Elle ebenso wie in Frankfurt 54 cm lang, in der Kurpfalz 61 cm. Es ist leicht nachvollziehbar, wie es zur Redewendung »jemanden, etwas mit gleicher Elle messen« kommen konnte: Es war keineswegs selbstverständlich, dass es beim Abmessen immer mit rechten, weil objektivierbaren und allgemeingültigen Dingen zuging. In diese Richtung geht auch das Idiom »das hat der Fuchs mit dem Schwanz gemessen«, womit gesagt ist, dass eine Entfernung viel weiter ist als angegeben.

Seit der Einführung des Urmeters nach der Französischen Revolution als verbindliche Maßeinheit leben die alten Längenmaße vor allem in Redewendungen (Phraseologismen) fort. Auch das Raummaß spielt bei Phraseologismen eine wichtige Rolle. In seiner Übersetzung des Lukasevangeliums (6, 38) prägte Luther die Wendung »ein gerüttelt Maß von/an«, womit eine sehr große Menge von etwas gemeint ist. Jeder, der schon mal Mehl in eine Dose gefüllt hat, weiß, welchen Unterschied ein bisschen Rütteln machen kann. Und wenn das Maß voll ist, sollte man vorsichtig sein, damit nichts überläuft.

Gemessen werden musste aber immer auch schon die Zeit, deren Messer die Uhr ist, ihre Einheit aber Stunden, Minuten und Sekunden. Die zeitliche Bedeutung des Messens spielt aber auch in Musik und Dichtung eine Rolle – in Form des Versmaßes und des Taktmaßes. Aus moralischen Diskursen ist das Substantiv Maß kaum wegzudenken. Geht es um das richtige Maß, so ist etwas gefragt, womit man gut umgehen kann, was einschätzbar ist, was sich geziemt.

Ähnliche Bedeutungen enthalten Bildungen wie maßvoll, maßhalten, angemessen – oder eben die Umkehrung dessen in unmäßig, maßlos und so weiter. Und wer weder Maß noch Ziel kennt, kann sich nicht beherrschen, ist schwer zu handlen und vielleicht sogar vermessen. Wer sich vermisst, hat den Maßstab falsch angelegt, hat falsch gemessen und liegt insofern ziemlich daneben. Im übertragenen Sinne bedeutet das, sich selbst falsch zu messen, einzuschätzen, anmaßend zu sein und dabei dem Übel der Vermessenheit anheimzufallen. Ein typischer Fall von Hybris oder Selbstüberschätzung (siehe auch »Facetten der Vermessenheit «, Seite 5). Mit etwas mehr Augenmaß wäre das sicher nicht passiert.

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