Physik: Neue Methode für Präzisionsstudien zur starken Wechselwirkung

Am ALICE-Detektor des Teilchenbeschleunigerzentrums CERN werden künftig Hyperonen vermessen werden. Wissenschaftler der Goethe-Universität sind Teil der ALICE-Kollaboration. Foto: CERN

Extrem dichte Neutronensterne enthalten in ihrem Inneren möglicherweise instabile Hyperonen, die wie die stabilen Hadronen des Atomkerns, Protonen und Neutronen, durch die starke Wechselwirkung zusammengehalten werden. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Forschungskollaboration ALICE am Beschleunigerzentrum CERN haben jetzt eine Methode entwickelt, wie die starke Wechselwirkung zwischen instabilen Hadronen erstmals präzise im Experiment vermessen werden kann. An der Entwicklung waren Forschungsteams der Goethe-Universität um Prof. Harald Appelshäuser und der TU München um Prof. Laura Fabbietti beteiligt.

In einem heute in Nature veröffentlichten Artikel beschreibt die ALICE-Kollaboration eine neuartige Methode, welche künftig Präzisionsmessungen der starken Wechselwirkung zwischen Hadronen am Large Hadron Collider (LHC) Beschleuniger des CERN in Genf erlauben wird.

Hadronen – zu denen Protonen und Neutronen gehören – sind zusammengesetzte Teilchen aus zwei oder drei Quarks, die durch die starke Wechselwirkung zusammengehalten werden. Die Wechselwirkung ist jedoch nicht auf das Innere des Hadrons beschränkt, sondern reicht darüber hinaus. Sie führt zu einer sogenannten Restwechselwirkung, aufgrund derer auch Hadronen Kräfte aufeinander ausüben. Bekanntestes Beispiel ist die Kraft zwischen Protonen und Neutronen, die für den Zusammenhalt der Atomkerne verantwortlich ist. Eine der großen Herausforderungen der modernen Kernphysik besteht darin, eine genaue Berechnung der starken Kraft zwischen Hadronen zu erzielen, die auf der zugrundeliegenden starken Wechselwirkung der Quarks aufbaut.

Im Rahmen sogenannter „Gitter-QCD“-Rechnungen kann die effektive starke Kraft zwischen Hadronen auf Basis der fundamentalen Theorie der starken Wechselwirkung zwischen Quarks berechnet werden. Diese Berechnungen haben allerdings nur für Hadronen, die schwere Quarks enthalten, eine hohe Genauigkeit. Dies gilt zum Beispiel für Hyperonen, also Hadronen, die ein oder mehrere sogenannte strange Quarks enthalten. Obwohl die starke Wechselwirkung durch Kollisionen der Hadronen in sogenannten Streuexperimenten untersucht werden kann, ist es schwierig, diese Experimente mit instabilen Hadronen wie Hyperonen durchzuführen. Dementsprechend ist ein experimenteller Vergleich mit den präzisen theoretischen Vorhersagen aus der Gitter-QCD für Hyperonen schwierig.

In der heutigen Veröffentlichung der ALICE Kollaboration wird eine Methode vorgestellt, die es erlaubt, die Dynamik der starken Wechselwirkung für beliebige Paare von Hadronen zu untersuchen. Dies betrifft insbesondere solche Hadronen, die kurzlebig sind, also nach Bruchteilen von Sekunden zerfallen und deshalb nicht in Streuexperimenten untersucht werden können. Stattdessen werden die Hadronen in Proton-Proton Kollisionen am LHC erzeugt. Die Wechselwirkung zwischen ihnen kann anhand ihrer relativen Impulsverteilung vermessen werden.

Prof. Laura Fabbietti von der TU München, die maßgeblich zu den nun vorgestellten Ergebnissen beigetragen hat, betont, dass dieser Durchbruch sowohl dem LHC als auch dem ALICE Detektor zu verdanken sei. Der LHC könne sehr viele Hadronen mit strange Quarks erzeugen und ermögliche so einen Einblick in die Natur der starken Wechselwirkung. Der ALICE Detektor und dessen hochauflösende sogenannte Spurendriftkammer (TPC) wiederum böte die erforderliche Präzision, die Teilchen zielsicher zu identifizieren und deren Impulse genau zu vermessen.

Harald Appelshäuser, Professor an der Goethe-Universität, leitet seit zehn Jahren das ALICE TPC-Projekt und ist Mitautor der Veröffentlichung. Er arbeitet eng mit der Münchner Gruppe von Laura Fabbietti zusammen und betont, dass mit der vorgestellten Methode „eine neue Ära von Präzisionsstudien der starken Wechselwirkung zwischen exotischen Hadronen am LHC“ eingeleitet würde.

Die vorgestellte Methode wird Femtoskopie genannt, weil sich die untersuchten Prozesse in einem räumlichen Bereich von etwa 1 Femtometer (10-15 Meter) abspielen. Das entspricht in etwa der Größe eines Hadrons und der Reichweite der starken Wechselwirkung. Mit dieser Methode konnte die ALICE-Kollaboration bereits vorher Wechselwirkungen zwischen Hyperonen untersuchen, die ein oder zwei strange Quarks enthalten. In der heutigen Veröffentlichung wurde nun erstmals und mit hoher Präzision eine Messung der Wechselwirkung zwischen einem Proton und dem Omega (Ω) Hyperon untersucht. Das Omega ist das seltenste aller Hyperonen und besteht aus drei strange Quarks.

Prof. Appelshäuser betont, dass die Bedeutung der Ergebnisse über die Überprüfung theoretischer Berechnungen hinausreicht: „Femtoskopische Untersuchungen können unser Verständnis von sehr dichten stellaren Objekten wie Neutronensternen, die im Innern Hyperonen enthalten können und deren Wechselwirkung immer noch weitgehend unbekannt ist, wesentlich erweitern.“

Publikation: Shreyasi Acharya et al. (ALICE Collaboration): Unveiling the strong interaction among hadrons at the LHC. Nature, 9. Dezember 2020 – https://doi.org/10.1038/s41586-020-3001-6

Erklär-Video der TU München zum Thema: Rätselhafte Neutronensterne – Präzise Messung der starken Wechselwirkung – YouTube

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