Eine einst pulsierende Industrieregion liegt brach, die Menschen ziehen weg: Welche Zukunft haben solche Orte? Und wie sieht diese in den Augen derer aus, die geblieben sind? Ein Forschungsprojekt von Goethe-Universität und Partner-Universitäten in anderen europäischen Ländern nimmt verwaiste und auf Ideen wartende Regionen in Deutschland, Österreich, Rumänien und Schottland in den Blick.
Utopienarrative, Erzählungen über die Zukunft einer Region, sie stehen im Mittelpunkt des Projekts mit dem Titel „Waste/Land/Futures: intergenerational relations in places of abandonment and renewal across Europe”, das die Volkswagen-Stiftung für die nächsten vier Jahre mit insgesamt 1,6 Millionen Euro fördert. Beteiligt sind Forscherinnen und Forscher unterschiedlicher sozialwissenschaftlicher Disziplinen in Österreich, Rumänien, Großbritannien und Deutschland – und damit in den Ländern, in denen sich auch die Orte der Forschung befinden. Wissenschaftliche Koordinatorin der soziologisch-kulturanthropologischen Studie ist Dr. Anamaria Depner, die am Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung der Goethe-Universität arbeitet.
Die Regionen, die im Fokus der Untersuchung stehen, haben eines gemeinsam: Aufgrund niedriger Geburtenraten, einer alternden Bevölkerung und eines stärkeren Weg- als Zuzugs schrumpft die Bevölkerung. Die Ursachen hängen zum einen zusammen mit einem Strukturwandel „unter der Erde“ wie in Glasgow oder im Saarland, wo der Kohleabbau beendet wurde, zum anderen „über der Erde“ wie im rumänischen Donaudelta, wo im Sommer der Tourismus brummt, im Winter aber Stillstand herrscht, oder im ehemaligen Tagebaugebiet Eisenerz in Österreich. „Diese Orte sind oft Gegenstand von Gesprächen über die Vergangenheit, über Verfall und Verlust. Sie bergen aber auch ein großes Potenzial für die Entwicklung utopischer Visionen über die Zukunft europäischer Regionen und der Menschen dort – und damit für die Zukunft Europas“, erklärt Anamaria Depner.
Bislang ist die Situation in den vier Regionen erst wenig wissenschaftlich erforscht. Das soll sich nun ändern. Allerdings haben die Teams nicht vor, Wissenschaft „von außen“ zu betreiben Eine der Methoden der Wahl ist daher die „teilnehmende Beobachtung“. Aber auch co-kreative Methoden wie Participatory Action Research (PAR) werden angewendet, bei denen die Beteiligten in jedem Schritt des Forschungsprozesses einbezogen werden. Ziel ist es dabei nicht, auf Basis der Analysen Handlungsanweisungen zu formulieren. Nach einer ersten Bestandsaufnahme werden u.a. Interviews in Familien geführt, zum Beispiel darüber, wie sich die Beziehungen zwischen den Generationen oder zu den Orten verändert haben und wie sie sich weiter verändern. Mit den Menschen vor Ort und den weggezogenen Familienangehörigen werden literarische Texte, Fotografien und Theaterevents entwickelt und damit auch Ideen für die Zukunft. In einer späteren Phase könnten die Communitys an den vier unterschiedlichen Orten, die je von einem anderen Team wissenschaftlich begleitet werden, auch miteinander ins Gespräch kommen.
Insgesamt sind fünf Wissenschaftlerinnen am Projekt beteiligt, darunter auch early career researchers. Mit ihrer Begeisterung, die auch in einer umfangreichen Vorrecherche zum Ausdruck kam, konnten die vier Teilteams die Volkswagen-Stiftung offenbar überzeugen. Das Projekt ist Teil des Programms „Potentiale und Herausforderungen in Europa“ der Volkswagenstiftung, an dem die Goethe-Universität mit insgesamt fünf Projekten und damit bundesweit am meisten beteiligt ist. Auch die wissenschaftliche Koordination des Programms ist an der Goethe-Universität angesiedelt, sie wird von Dr. Ewa Palenga-Möllenbeck von Institut für Soziologie wahrgenommen. Am Mittwoch, 4. September, findet im Schloss Herrenhausen in Hannover eine Tagung statt, an der insgesamt 21 internationale Forschungsprojekte teilnehmen und ihre Ergebnisse präsentieren.
Weitere Informationen zum Projekt sind hier zu finden: Wasteland Futures. Generationsbeziehungen an verlassenen Orten in ganz Europa