Ergebnisse des Metavorhabens Inklusive Bildung
In der Förderrichtlinie »Förderbezogene Diagnostik in der inklusiven Bildung« des Bundesministeriums für Bildung und Forschung wurden 28 Projekte gefördert, die zum Thema forschten und Instrumente zur Anwendung in der Bildungspraxis entwickelten. Begleitet wurde ihre Arbeit vom ebenfalls in diesem Kontext geförderten Metavorhaben Inklusive Bildung. Die Forschungsergebnisse und Produkte der Projekte werden in zwei Sammelbänden mit den Schwerpunkten Fachdidaktik, Professionalisierung, spezifische Unterstützungsangebote und Übergänge in die berufliche Bildung, herausgegeben vom Metavorhaben, vorgestellt. Zur Veröffentlichung der Bände hat der UniReport Prof. Dieter Katzenbach, der zusammen mit Prof. Michael Urban das Projekt leitet, einige Fragen gestellt.

UniReport: Deutschland hat 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Wie sehen Sie aktuell den Stand der Inklusion in Deutschland und welche Bedeutung hat die Förderrichtlinie in diesem Rahmen?
Dieter Katzenbach: Zunächst einmal ist daran zu erinnern, dass inklusive Bildung nicht nur eine modische pädagogische Randerscheinung ist, sondern eine menschenrechtliche Verpflichtung, die die Bundesrepublik Deutschland mit der Ratifizierungder UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 eingegangen ist. Inklusive Bildung meint natürlich noch viel mehr, aber die unverzichtbare Voraussetzung ist, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderung eben nicht mehr in Sonder-Kitas oder Sonderschulen verbracht werden, sondern mit ihren Altersgenossen gemeinsam dieselbe Kita besuchen, in dieselbe Schule gehen, dieselbe Klasse besuchen. Mehr als 15 Jahre nach Ratifizierung der UN-Konvention muss man aber leider festhalten, dass die Umsetzung in Deutschland nach wie vor schleppend verläuft und vielerorts vollends zu versanden droht.
Trotzdem sind auch Fortschritte gemacht worden: Die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit „sonderpädagogischem Förderbedarf“, die in Regelschulen inklusiv beschult werden, ist in diesem Zeitraum massiv angestiegen. Aber die Zahl der Schüler:innen an Förderschulen ist leider keineswegs zurückgegangen. Das klingt paradox, hat aber einfach damit zu tun, dass heute sehr viel mehr Kinder sonderpädagogischen Förderbedarf attestiert bekommen als noch vor 15 Jahren, und so erklärt sich die Zunahme der inklusiv beschulten Kinder.
Abgesehen davon ist festzuhalten, dass der Anspruch der Inklusion die pädagogischen Fachkräfte vor immense Herausforderungen stellt, auf die sie teilweise nicht oder nur äußerst unzureichend vorbereitet waren und sind. Insofern war der erste Teil des Förderprogramms zur Inklusiven Bildung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, das sich direkt an die Qualifizierung des pädagogischen Fachpersonals richtete, von immenser Bedeutung. Und mit dem Thema Diagnostik hat das BMBF in dem jetzt abgeschlossenen zweiten Teil des Förderprogramms ein wesentliches Element inklusiver Bildung aufgegriffen.
Förderbezogene Diagnostik soll dabei helfen, inklusive Bildung bestmöglich umzusetzen. Wie beurteilen Sie die Rolle förderbezogener Diagnostik im Feld der inklusiven Bildung?
„Förderbezogene Diagnostik“ ist eine Wortschöpfung des BMBF und bringt ganz gut zum Ausdruck, dass mit Diagnostik sehr, sehr Unterschiedliches gemeint sein kann.
Alltagssprachlich wird Diagnostik in der Regel mit der Medizin in Verbindung gebracht, zumeist im Kontext von Krankheit – oder eben auch Behinderung. Dieses Begriffsverständnis von Diagnostik spielt in der Pädagogik, speziell in der Sonderpädagogik, auch bis heute eine wichtige Rolle, wenn es eben darum geht, ob und wenn ja, welcher sonderpädagogische Förderbedarf einem Kind zugesprochen wird. Diagnostik nach diesem Begriffsverständnis bezieht sich hier auf ein, gesellschaftlich meist gering geschätztes, Persönlichkeitsmerkmal eines Kindes oder Jugendlichen.
Schon lange wurde und wird bis heute in Erziehungswissenschaft und Schulpädagogik kritisch diskutiert, welchen Nutzen solche Diagnosen eigentlich haben welchen Schaden sie auch anrichten können. Fest steht, dass aus einer solchen „Statusdiagnostik“ keinerlei Schlussfolgerungen gezogen werden können, wie dem Kind pädagogisch und didaktisch geholfen werden kann. Deshalb rückt unter der Förderperspektive der Prozess des Lernens in den Vordergrund. Das hat mit dem Anspruch inklusiver Bildung zu tun, Kinder nicht einfach in die passende (Sonder-)Schulform zu stecken, sondern im gemeinsamen Lernen in der inklusiven Lerngruppe ein individuell angepasstes Angebot zu schaffen. Das setzt aber voraus, dass die Lehrkräfte praktikable Hilfsmittel an die Hand bekommen, um ohne übergroßen Aufwand die individuellen Lernstände der Kinder zu erfassen.
Wir finden aber noch ein weiteres Verständnis von Diagnostik im Fachdiskurs, das unmittelbar zu tun hat mit dem sich wandelnden Verständnis von Behinderung. In der Behindertenrechtskonvention wird Behinderung – anders als im Alltagsverständnis – nicht mehr als Eigenschaft einer Person verstanden. Behinderung in diesem modernen Begriffsverständnis wird vielmehr angesehen als Einschränkung der sozialen Teilhabe. Diese Einschränkung kommt aufgrund der Wechselwirkung zwischen individuellen körperlichen Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren zustande. Damit wird der Begriff der Barriere in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt: Förderbezogene Diagnostik kann nämlich auch heißen, dass nicht mehr die einzelnen Schüler:innen in den Blick genommen werden, sondern deren Lernumfeld. Das heißt, es wird versucht, die Barrieren zu identifizieren, die diese Schüler:innen am Lernen und an der sozialen Teilhabe hindern.
Die Sammelbände richten sich an eine breite Leserschaft aus Bildungspraxis, -verwaltung, -politik und -forschung. Welche zentralen Erkenntnisse bieten die Bände für diese Zielgruppen?
Wir haben in dem Förderprogramm interessanterweise alle drei dieser eben skizzierten Verständnisse von Diagnostik vorgefunden. Einzelne Projekte haben die sonderpädagogische Feststellungsdiagnostik in den Blick genommen und dabei hochproblematische Praktiken vorgefunden. Deren Erkenntnisse sind vor allem für Bildungspolitik und die Bildungsverwaltung von größtem Interesse.
Andere Projekte haben aus einer fachdidaktischen Perspektive die Lernstandserfassung für einzelne Unterrichtsfächer und Unterrichtsgegenstände bearbeitet und dafür entsprechende, vielfach auch digitale Tools entwickelt. Das kann für die einzelne Lehrkraft vor Ort von großem Nutzen sein.
Ähnliches gilt für die Tools zur Entwicklungsdokumentation im Elementarbereich, die gerade auch an der Schnittstelle zwischen Kita und Grundschule von Bedeutung sind. Wieder andere Projekte befassen sich mit der Identifikation von Lernbarrieren für die Schüler:innen und haben dazu anwendungsfreundliche Instrumente entwickelt. Das hilft der einzelnen Lehrkraft und der Schulentwicklung im Ganzen.
In den Projekten wurden vielfältige Materialien zur Anwendung förderbezogener Diagnostik in der Bildungspraxis entwickelt – vom Elementarbereich bis zur Erwachsenenbildung. Wie kann in diesem heterogenen Feld erfolgreicher Transfer gelingen und welche Rahmenbedingungen braucht es dafür?
Die Frage des erfolgreichen Transfers wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Bildungspraxis stellt nach wie vor eine ganz große Herausforderung dar. Dies ist nicht nur bei uns in Deutschland so, sondern wird weltweit beobachtet und beklagt. Gezeigt hat sich in der letzten Dekade, dass ein simples Transferverständnis, wonach die Wissenschaft ausrechnet, wie erfolgreicher Unterricht funktioniert und die Praxis diese Erkenntnisse dann einfach nur umzusetzen hätte, nicht funktioniert.
Es ist stattdessen die Einsicht gereift, dass Transfer nur im Dialog funktioniert. Praxis ist vor die anspruchsvolle Aufgabe gestellt, die wissenschaftlichen Erkenntnisse auf ihre jeweiligen Praxisbedingungen hin zu prüfen, zu kontextualisieren und entsprechend anzupassen, ohne dabei den Kern der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu verfehlen.
Diese anspruchsvolle Form von Transfer kann aber nur im Dialog gelingen und dieser Dialog setzt wiederum zwei Dinge voraus: Zeit und Vertrauen. Wir haben festgestellt, dass auf beiden Seiten – in der Wissenschaft wie auch in der Praxis – ein großes Interesse an diesem Dialog besteht. Die dafür notwendigen Rahmenbedingungen sind bislang aber nur in Ansätzen entwickelt. Notwendige Rahmenbedingung ist das Zurverfügungstellen von Zeit. In der Wissenschaftspraxis ist immer noch der übliche Turnus: Projekte laufen drei Jahre, dann werden die Projektberichte und -ergebnisse veröffentlicht, und dann hat niemand mehr die Zeit für diesen Dialog, der ja erst ansetzen kann, wenn die Ergebnisse vorliegen. Hier muss sich in der Förderpraxis dringend etwas verändern. Wir stellen aber zudem fest, dass auch den Schulen und Bildungseinrichtungen Zeit und Personal fehlen, um diesen Dialog kontinuierlich zupflegen.
Fragen: Stefan Katzenbach, Team Metavorhaben Inklusive Bildung
Erschienen sind die Sammelbände als Open-Access-Publikationen beim Waxmann Verlag:
Kompetenzbereiche – Fachdidaktik
Professionalisierung – spezifische Unterstützungsangebote – Übergänge in die berufliche Bildung