Stimme der Opfer: Kinderschutzambulanz des Universitätsklinikums arbeitet am Limit

Misshandlungen, Tod durch Vernachlässigung, brutale Übergriffe: So viele Kinder wie nie sind körperlich und seelisch in Gefahr. Vor allem sexuelle Gewalt stieg vergangenes Jahr besonders stark an. Das melden die deutschen Jugendämter. Bestätigen kann das die Kinderschutzambulanz am Universitätsklinikum Frankfurt. Hier erhalten die Opfer medizinische Hilfe. Die Ärzte sind darauf spezialisiert zu erkennen, ob ein Kind tatsächlich gestolpert oder brutal verprügelt worden ist. Sie gehen Verdachtsfällen nach und dokumentieren sie. Von ihrem Gutachten hängt viel ab.

Auch Schütteln ist Kindesmisshandlung: Dr. Marco Baz Bartels mit einer Simulatorpuppe für Schütteltraumata. (Foto: Universitätsklinikum Frankfurt)

Ein erschrockener Gesichtsausdruck geht gar nicht. Verängstigten, verstörten Kindern vermittelt Marco Baz Bartels mit sachlich lockerem Ton das Gefühl, dass sie normale Patienten sind. »Ich vermittle den Kindern, dass ich aushalten kann, was sie mir erzählen«, erklärt der Oberarzt der Kinderschutzambulanz. Sie, die Kinder, sind normal und sie sind nicht allein: Tausende Kinder teilen das gleiche Schicksal. »Sie sollen sich nicht schämen müssen, sich nicht schmutzig fühlen für das, was ihnen angetan wurde«, sagt der Kinderneurologe, »Mitleid hilft den Kindern nicht.« Bartels und sein Team begegnen ihren kleinen und größeren Patienten offen und zugewandt, erklären alles, was sie tun. Begleitende Erwachsene schicken sie auch schon mal vor die Tür. Das Behandlungszimmer ist ein geschützter Raum. Bartels braucht das Vertrauen der Kinder.

»Mich berühren die depressiven Kinder, diejenigen, die ihre Lebensfreude verloren haben.«

Marco Baz Bartels, Oberarzt an der Kinderschutzambulanz

Gewalt gegen Kinder hat viele Gesichter

Das Team der Kinderschutzambulanz sieht verbrannte Gesichter, eingerissene Ohrläppchen, Babys mit Schütteltrauma, sexuell missbrauchte Kleinkinder und Jugendliche, verprügelte Teenager, Vernachlässigung. Die Herausforderung dabei ist es, Misshandlungen sicher zu erkennen. »Wir klären hier Sachverhalte ab, die unter Verdacht stehen, nicht so entstanden zu sein, wie wir sie häufig erzählt bekommen. Und das sagen wir auch ganz klar«, sagt Marco Bartels. Ist die Geschichte, wie die Verletzung zustande kam, plausibel? Dies festzustellen, dafür nimmt sich der Kinderneurologe viel Zeit, lässt sich ein, übernimmt Verantwortung: Muss das Kind in staatliche Obhut? Müssen die Eltern angezeigt werden? Solche Fälle werden systematisch untersucht und für die Justiz dokumentiert. Es braucht harte Fakten und Zeit, um aus vielen Puzzlesteinen ein ganzes Bild zu erhalten.

Kinderschutzambulanz arbeitet interdisziplinär

Die Frankfurter Kinderschutzambulanz ist deutschlandweit die einzige, die in dieser Form interdisziplinär arbeitet. Das Kind muss nicht zu allen Ärzten einzeln gehen. Die Fachkräfte kommen in die Ambulanz im Untergeschoss der Kinderklinik. Je mehr unterschiedlich qualifizierte Fachärzte ein Kind untersuchen, desto objektiver der Befund – das ist die Idee. »Es sind immer mindestens zwei Leute, die das Kind sehen«, berichtet Bartels. «Ohne die wertvolle Zusammenarbeit mit den vielen Einzeldisziplinen im Klinikum wären wir als Kinderärzte aufgeschmissen.«

Dermatologen, Gynäkologen, Chirurgen, Rechtsmediziner, Augenärzte, Psychologen – um nur einige zu nennen – sind je nach Verdachtsfall beteiligt, wenn es darum geht, körperliche Misshandlung, sexuellen Missbrauch oder die Vernachlässigung von Minderjährigen zu bewerten. Ohne diese Beurteilung sei eine gezielte Hilfeplanung mit den Jugendämtern, den sozialpädagogischen Familienhilfen, den Familienrichtern, der Kriminalpolizei nicht möglich, sagt Bartels: »Wir sind Ansprechpartner für die regionalen und überregionalen Institutionen, die beim Kinderschutz aktiv sind. Wir wohnen Verhören bei, wir sind als Sachverständige vor Gericht.« Manchmal müssen Kinder nach einem signifikanten Befund aus der Familie genommen werden. Die Einschätzung des Expertenteams stellt niemand infrage. Auch die Eltern nicht.

»Der Kinderschutz gelangt allmählich aus dem Zustand der Duldung in die Akzeptanz der Notwendigkeit.«

Marco Baz Bartels, Oberarzt an der Kinderschutzambulanz

Kinderschutzambulanz am Limit

In nur wenigen deutschen Kinderkliniken gibt es Kompetenzzentren für das Abklären von Kindeswohlgefährdungen. Es fehlt an den notwendigen Erfahrungen und Ressourcen, eine multidisziplinäre Kinderschutzambulanz zu betreiben. In Hessen führt noch die Kinderklinik Kassel eine Kinderschutzambulanz mit interdisziplinärem Team. An einigen Kinderkliniken arbeiten sogenannte Kinderschutzgruppen – kleine ärztlich geführte Gruppen mit entsprechender Expertise. Das Thema mache Angst, sagt Marco Baz Bartels: »Kinderschutz findet nach wie vor am Rande der Gesellschaft statt. Die Beschäftigung damit ist belastend, aufwendig und weiterhin ein Tabu.« Immerhin sind Kinderschutzfragestellungen inzwischen in die Weiterbildungsordnung für Kinderärzte durch die Bundesärztekammer aufgenommen worden. Den Bedarf stellt niemand mehr infrage.

Kein Abrechnungscode für Misshandlung, Missbrauch, Vernachlässigung


Prof. Matthias Kieslich, Leiter der Kinderschutzambulanz an der Uni-Klinik Frankfurt (Foto: Universitätsklinikum Frankfurt)

Die Frankfurter Kinderschutzambulanz indes hat sich etabliert. Seit ihrer Gründung im November 2010 sind die Patientenzahlen sprunghaft gestiegen. Waren es im ersten Jahr noch sieben Kinder insgesamt, schicken Polizei und Jugendamt heute rund 450 Kinder jährlich. »Das schaffen wir jetzt allerdings nicht mehr neben unserer normalen Arbeit als Kinderärzte. Wir brauchen diverse Planstellen innerhalb der Ambulanz: Ärzte, Psychologen, Sozialpädagogen, die eine nachhaltige und langfristige Versorgung sicherstellen.«

Prof. Matthias Kieslich, Leiter der Kinderschutzambulanz, möchte, dass das Land Hessen solche Stellen gezielt langfristig finanziert, so wie Berlin es macht, Nordrhein-Westfalen, Baden- Württemberg. Der Mehraufwand für den Kinderschutz gehört zwar inzwischen zu den Regelleistungen der Krankenkassen, kostendeckend ist dies jedoch nicht. Weiterhin bleibt das Universitätsklinikum Frankfurt auf Kosten sitzen, die Kinderschutzambulanz ist daher auf den inzwischen gewährten Trägerzuschuss und Spenden angewiesen.

»Die Gesellschaft muss sich schon fragen, wie sie mit ihrer Zukunft umgeht, mit den Kindern, die diese Gesellschaft mal tragen sollen.« Marco Baz Bartels spricht aus, was viele Kinderärzte denken. Es braucht mehr Geld für Behandlung, Forschung und Lehre im Kinderschutz. 

Heike Jüngst

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Dieser Artikel ist in der Ausgabe 43 des Alumni-Magazins Einblick erschienen.

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