Trotz Kritik am Fach: Studierende beteiligen sich kaum am Erneuerungsprozess der VWL

Studie von Tim Engartner und Eva Schweitzer-Krah zur Pluralismusdebatte in der Volkswirtschaftslehre.

Schon seit Jahren findet in der Volkswirtschaftslehre eine erstaunlich breit geführte Diskussion über die Ausrichtung des Faches statt. In der sogenannten Pluralismusdebatte fordern Kritiker unter anderem eine größere theoretische Vielfalt, mehr Interdisziplinarität und eine Erweiterung des Methodenrepertoires.

Längst hat die Diskussion die Grenzen des fachinternen Diskurses übersprungen und die wissenschaftsinteressierte Öffentlichkeit erreicht. „Erstaunlich ist aber, dass die Studierenden, immerhin die größte Statusgruppe an den Hochschulen, bislang nicht dazu befragt wurden“, erklärt Tim Engartner, Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt politische Bildung an der Goethe-Universität.

Zusammen mit seiner Mitarbeiterin Eva Schweitzer-Krah befragte er an fünf der zehn größten wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten Studierende der VWL nach ihrem Blick auf das Fach und die Pluralismusdebatte.

Kritik an Mainstream-Lehre

Die Ergebnisse haben Engartner und Schweitzer-Krah durchaus überrascht: „Dass Studierende ihr Fach einerseits mit einer solchen Vehemenz kritisieren, sich aber andererseits kaum an der Debatte beteiligen, ist wirklich verblüffend“, unterstreicht Eva Schweitzer-Krah; man kritisiere vor allem die Dominanz mathematisch-formalistischer Modelle, vermisse sozialwissenschaftliche Zugänge und interdisziplinäre Bezüge zu angrenzenden Fächern.

Die VWL bleibe demnach vorwiegend „neoklassischen Knappheitsaspekten“ verhaftet; stattdessen wünschen sich Studierende stärker „verteilungspolitische Fragen“. Vor diesem Hintergrund sei es überraschend, dass nur 13,7 Prozent der Befragten die Pluralismusdebatte intensiv verfolgen und gerade einmal 6,4 Prozent sich in entsprechenden Initiativen beteiligen.

Besonders gravierend seien die persönlichen Veränderungen, die eine Mehrheit der Studierenden bei sich nach gerade einmal vier Semestern festgestellt habe, betont Engartner: „Die Merkmale des Zoon politikon werden anscheinend von denen des Homo oeconomicus verdrängt; Idealismus, Gerechtigkeitssinn und Empathie treten zurück, während Leistungsdruck, Karriereambitionen und Konkurrenzdenken zugenommen haben.“

DIE WICHTIGSTEN ERGEBNISSE

Die Studie untersucht, wie Studierende der Volkswirtschaftslehre (VWL) an deutschen Hochschulen ihr Fach und die Pluralismusdebatte wahrnehmen. Schriftlich befragt wurden 351 Studierende der VWL im vierten Semester an den Universitäten Bonn, Frankfurt am Main, Hamburg, Heidelberg und Mannheim. Die Ergebnisse lassen sich in drei Kernpunkten zusammenfassen.

Die Studierenden teilen die Kritik an der ökonomischen Mainstream- Lehre. Die VWL wird von ihnen als praxisfern, mathematisch fokussiert, wenig interdisziplinär und abgewandt von gesellschaftlichen Grundfragen erlebt. Eine flächendeckende Beteiligung an der Pluralismusdebatte findet gleichwohl kaum statt.

Hochschulweit beklagen die Befragten eine immense Wettbewerbsorientierung in der VWL. Karriereambitionen, Leistungsdruck und Konkurrenzdenken nehmen im Studium zu, während Attribute des Sozialverhaltens (u. a. Idealismus, Einfühlungsvermögen, Solidarität, Hilfsbereitschaft) in den Hintergrund treten.

Diese Veränderung scheint die Bereitschaft der Studierenden zu mindern, sich uneigennützig für eine fachliche Erneuerung in der VWL einzusetzen. Stattdessen geben sie den prüfungsrelevanten Mainstream-Inhalten den Vorzug vor einem aufwendigen und ungewissen Engagement in der Pluralismusdebatte.

Desillusionierung und fehlende Beteiligung

Der Gegensatz von anfänglichem Idealismus und der Trägheit im Alltag sei natürlich nicht per se eine Besonderheit von VWL-Studierenden, konzediert Engartner. So sei bekanntlich die Beteiligung bei den Wahlen zum Studierendenparlament an allen Hochschulen auch recht gering.

Oft stehe einer Partizipation an Hochschuldebatten der nachvollziehbare Gedanke entgegen, dass man ohnehin nur eine begrenzte Zeit an der Universität verbringe und somit von Veränderungen ohnehin nicht profitiere. „Wir wissen auch nicht, wie hoch die Unzufriedenheit in anderen Fächern mit der Lehre ist. Es wäre sicherlich interessant, das einmal im Rahmen einer Vergleichsstudie zu erheben.“

Gleichwohl, betonen Engartner und Schweitzer-Krah, sei der Prozess einer Desillusionierung im Fach Volkswirtschaftslehre deutlich zu sehen. Sie fordern, dass die Fakultäten stärker auf studentische Interessen und Bedürfnisse eingehen.

„Studierende entscheiden sich ganz bewusst für einen Studienstandort und eine Fakultät, möchten gerne gesellschaftliche Phänomene besser verstehen lernen, sind aber im Nachhinein oft enttäuscht. Das Analyseobjekt in der Lehre liegt meist auf dem methodologischen Individualismus; globale Systemzusammenhänge oder institutionelle Kontexte werden auch nach der Finanzkrise noch viel zu selten behandelt.“

Bedeutung wirtschaftswissenschaftlicher Forschung

Engartner betont, dass der kritische Blick auf eine wirtschaftswissenschaftliche Disziplin keineswegs als „Ökonomie-Bashing“ zu verstehen sei; es gebe kaum einen gesellschaftlichen Bereich, der nicht von wirtschaftlichen Aspekten geprägt sei. Auch in der Politikwissenschaft wachse das Interesse am System der Wirtschaft. Die aktuelle Grosser-Stiftungsprofessorin an der Goethe-Universität Cornelia Woll mit ihren Analysen zum Finanzmarkt sei hierfür ein gutes Beispiel.

Disziplinen wie Wirtschaftspsychologie, -geografie oder -geschichte trügen die Fächerverbindung bereits im Namen. Allerdings seien wirtschaftswissenschaftliche Disziplinen im Vergleich zu geistes- und sozialwissenschaftlichen bislang noch im geringeren Maße interdisziplinär ausgerichtet, was sich anhand von Zitations-Rankings nachweisen lasse. Engartner verteidigt das Fach VWL aber auch gegen eine Kritik der „Praxisferne“, die ihm zu pauschal erscheint:

„Als Universität richten wir unsere Studiengänge nicht primär an den Anforderungen des Arbeitsmarktes aus. Unser Erkenntnisinteresse geht über den beruflichen Nutzen hinaus. Zudem weiß man, das theoretisch gewonnenes Wissen eine längere Halbwertszeit hat als anwendungsbezogenes Wissen.“ Gleichwohl, ergänzt Schweitzer-Krah, müssten bei der Vermittlung der Fachinhalte die Anschaulichkeit und Konkretheit gewährleistet sein. Ein Fach wie die VWL habe eine gesellschaftliche Verantwortung und müsse daher auch auf aktuelle Fragen antworten und Impulse setzen.

Die beiden Forscher betonen, dass ihre Studie „Wie denken Studierende über die Pluralismusdebatte in der VWL?“ nicht repräsentativ und somit nicht auf alle VWL-Studierenden übertragbar sei; allerdings werfe die Stichprobe für eine erste Erkundung viele interessante Anschlussfragen auf. Weitere Untersuchungen seien notwendig. Zuerst möchte man die Ergebnisse in die Öffentlichkeit tragen und mit Studierenden und der Fachöffentlichkeit in einen fruchtbaren Diskurs treten.

Die Studie „Wie denken Studierende über die Pluralismusdebatte in der Volkswirtschaftslehre?“ von Tim Engartner und Eva Schweitzer-Krah wurde unterstützt durch das Themenfeld „Neues ökonomisches Denken“ des Forschungsinstituts für gesellschaftliche Weiterentwicklung e.V. in Düsseldorf und gefördert vom Land Nordrhein-Westfalen durch das Ministerium für Innovation, Wissenschaft und Forschung. Sie ist in englischer Form im International Review of Economics Education erschienen und wurde in Times Higher Education besprochen.

Zur Studie: www.sciencedirect.com | www.fgw-nrw.de

Dieser Artikel ist in der Ausgabe 1.19 des UniReport erschienen. 

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