Der Krieg gegen die Ukraine: Einschätzungen und Prognosen aus der Wissenschaft

Prof. Nicole Deitelhoff

UniReport: Frau Prof. Deitelhoff, nach fünf Wochen Krieg in der Ukraine deutet sich ein wenn auch kleiner Hoffnungsschimmer an, dass die Verhandlungen zwischen Ukraine und Russland den Konflikt beenden oder zumindest eingrenzen könnten. Oder ist das zu naiv gedacht angesichts der Unberechenbarkeit Putins?

Prof. Dr. Nicole Deitelhoff ist Politikwissenschaftlerin an der Goethe-Universität und Leiterin des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK).
Beitrag der HSFK zum Krieg in der Ukraine: Frieden am Ende?
Die Eskalation im Russland-
Ukraine-Konflikt und die Rolle der Friedenspolitik.

Nicole Deitelhoff: Den Konflikt kurzfristig beenden werden die Gespräche aller Wahrscheinlichkeit nach nicht. Dafür sind zum einen die Konfliktparteien gegenwärtig noch zu weit voneinander entfernt, was ihre Kriegsziele angeht und zugleich der Druck auf die Parteien noch zu gering, einen Ausweg finden zu müssen. Das lässt sich auch daran ablesen, dass beide Seiten den Krieg trotz der Gespräche unvermindert fortsetzen (sie versuchen, die Lage auf dem Schlachtfeld zu ihren Gunsten zu verändern) und zumindest eine Seite die Gespräche auch eher nutzt, um Zeit zu gewinnen. Das deutet sich zumindest auf russischer Seite als Strategie an, um die Truppen neu zu formieren und auszurichten.

Wäre eine offizielle Anerkennung eines unabhängigen Donbass seitens der Ukraine überhaupt denkbar (beziehungsweise sinnvoll)?

Denkbar wäre das sicher, aber diese Entscheidung obliegt der Ukrainischen Führung beziehungsweise ihren Bürgerinnen und Bürgern, die eine Übereinkunft mit Russland finden müssen. Ohne Not werden sie aber sicher keinen Teil der Ukraine aufgeben und diese Not sehe ich angesichts der Lage in der Ukraine gegenwärtig noch nicht.

Rechnen Sie damit, dass sich in Russland mittel- oder langfristig die Kritik an Putin mehr Gehör und Einfluss verschaffen könnte?

Gerade heute haben wir wieder neue Meinungsumfragen gesehen, wonach die übergroße Mehrheit der Russinnen und Russen Putins Feldzug unterstützt. Nur was heißt das in einem Land, in dem Kritik an diesem Feldzug mit massiven Strafen geahndet wird und die Medien schon weitgehend gleichgeschaltet sind und Staatspropaganda verbreiten? Offen gesprochen wissen wir nicht, wie die Stimmung in Russland tatsächlich ist. Was wir wissen ist, dass jede Herrschaft in Bedrängnis gerät, wenn sie nicht mehr „liefern“ kann, das heißt, wenn wichtige Unterstützerkreise den Eindruck gewinnen, dass sie ohne den jeweiligen Herrscher oder die Herrscherin besser dran wären. Das kann, je nachdem, wie sich die Lage in Russland unter dem Eindruck der Sanktionen und des Kriegs entwickelt, auch dort geschehen.

Die Ankündigung von Bundeskanzler Scholz, ein Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr bereitzustellen, hat insgesamt viel Zustimmung erfahren. In Teilen der deutschen Protestöffentlichkeit fürchtet man aber eine damit einhergehende Remilitarisierung von Politik und Gesellschaft; könnten die Pläne für die Stärkung von Nato und Bundeswehr die Unterstützung für eine (pazifistische) Friedensbewegung wieder anwachsen lassen, werden die Ostermärsche bald wieder die Straßen füllen?

Die Friedensbewegung ist ja gerade durch den Krieg wieder gewachsen, wenngleich auch nicht in ihrer altbekannten pazifistischen Gestalt, sondern als ideologisch sehr viel buntere Bewegung, in der nun auch offen über Militär und Gewalt gestritten wird. Ich glaube nicht, dass die pazifistischen Stimmen in diesem Streit unbedingt gewinnen werden, aber sie bleiben hoffentlich wichtig, um auch in diesem Krieg daran zu mahnen, dass allein mit Waffen kein nachhaltiger Frieden zu gewinnen ist.

Die Bundesregierung zieht offensichtlich in Erwägung, ein neues Raketenabwehrsystem zu kaufen. Dies stößt bereits auf massive Kritik. Wie schätzen Sie das ein?

Ich bin keine Militärexpertin und würde daher sagen, dass man (ich) abwarten sollte, wie die Expert*innen das einschätzen.

Prof. Werner Plumpe

UniReport: Herr Prof. Plumpe, wie bewerten Sie als (Wirtschafts-)Historiker die russische Invasion in der Ukraine – würden Sie auch das spektakuläre Wort der »Zeitenwende«, das Bundeskanzler Scholz verwendet hat, als zutreffend bezeichnen?

Prof. Dr. Werner Plumpe
ist Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Goethe-Universität.

Werner Plumpe: Eine historische Zäsur ist der Krieg zumindest für Europa, da seit 1945 kriegerische Ereignisse hier doch sehr begrenzt waren (Jugoslawien, Kosovo). In einer globalen Perspektive ist das aber zu relativieren. Dass Großmächte ihre Einflusszonen militärisch sichern, auch militärisch eingreifen, wenn sie ihre Interessen bedroht sehen, ist ja nicht so selten. Wenn Politiker unter dem Eindruck der Ereignisse zu großen Worten greifen, ist das nachvollziehbar. Für eine historische Beurteilung ist es meines Erachtens aber noch zu früh.

Muss der Westen sich den Vorwurf gefallen lassen, Anteil an der Eskalation zu haben, unter anderem mit der Osterweiterung der Nato? Halten Sie es für wahrscheinlich oder zumindest denkbar, dass Russland auch Nato-Staaten angreifen könnte?

Bei jedem Krieg gibt es eine Vorgeschichte, die nicht allein von einzelnen Akteuren bestimmt wird. Aber die Entscheidung zur Invasion ist autonom in Moskau gefallen. Die russische Regierung ist ja keine Marionette irgendwelcher Zwänge, sondern hat Entscheidungsspielräume, für die sie auch die Verantwortung trägt. Eine direkte militärische Konfrontation mit der NATO halte ich für unwahrscheinlich; eine indirekte ist allerdings bereits eingetreten.

Der Westen setzt vor allem auf Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Denken Sie, dass man damit die russische Regierung zum Einlenken bewegen kann? Haben die bisherigen Sanktionen bereits für Effekte gesorgt, gibt es historische Beispiele dafür, dass solche Sanktionen etwas bewirken können?

Sanktionen allein haben in historischer Perspektive wenig bewegt. Ihre Wirkungen sind diffus, weil ja nicht nur Regierungen, sondern eben auch die Bevölkerung getroffen wird. Sie sind überdies zweischneidig, denn sie beinhalten stets ein gewisses Selbstschädigungspotenzial, das mittel- und langfristig erheblich sein kann, wie der französische Überseehandel nach dem Ende der Kontinentalsperre 1814 erfahren musste. Im gegenwärtigen Fall sind sie aus nachvollziehbaren Gründen sehr heftig; aber ähnliche Sanktionen haben schwächere Staaten wie Kuba oder den Iran nicht in die Knie gezwungen. Die Wirkungen werden zweifellos zu einer Änderung der Strukturen der internationalen Arbeitsteilung führen. Wozu das führt, ist nicht abzusehen, denn, wie es scheint, soll es ja auch nach dem Ende des Krieges keine Rückkehr zum Status quo ante geben.

Der Westen möchte sich jetzt zunehmend unabhängig von russischen Energielieferungen machen. Wird das nicht dauerhaft den russischen Staat, der ja abgesehen von Öl, Gas und Steinkohle über wenige exportierbare Güter verfügt, schwächen? Oder wird Russland andere Abnehmer finden?

Das ist eine eigenartige Situation, denn der Grund für die starke deutsche Abhängigkeit vom russischen Gas ist die Energiewende, an der ja festgehalten werden soll. Die Abhängigkeit bleibt, nur soll es nicht mehr Russland sein, von dessen Energielieferungen die Bundesrepublik abhängt, sondern Katar, die USA etc. Andere Lieferanten kommen also in eine starke Stellung. Was das für die Versorgungssicherheit, die Produktqualität und die Preise bedeutet, ist schwer zu beurteilen, zumal es nicht prognostizierbar ist, bis wann die Umstellung der Lieferwege realistisch durchführbar ist. Da herrscht, vom Wunsch abgesehen, auf russisches Gas zu verzichten, noch sehr viel Unklarheit. Zu Russland: So einfach ist es leider nicht. Es gibt schon einige weitere wichtige Rohstoffe, über die Russland verfügt. Die Lieferungen des Landes vollständig zu ersetzen, ist weder technisch möglich, noch ökonomisch sinnvoll, zumal andere Länder als Kunden bereitstehen. Russland ist im Westen isoliert, aber global ist das Bild doch differenzierter. Und ob es da so sinnvoll ist, sich von der größten Rohstoffquelle der Welt dauerhaft abzuschließen, ist eine offene Frage. Es ist nur zu hoffen, dass der Krieg schnell zum Ende kommt und danach Wege gefunden werden, die Beschädigung der globalen Arbeitsteilung so gering wie möglich zu halten.

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Prof. Rolf van Dick

UniReport: Herr Prof. van Dick, wie ist die Idee für den Offenen Brief an Putin entstanden, was erhoffen Sie sich davon?

Prof. Dr. Rolf van Dick ist Professor für Sozialpsychologie an der Goethe-Universität. Er hat kürzlich mit seinem Kollegen Prof. Ulrich Wagner (Universität Marburg) einen Offenen Brief an den russischen Präsidenten Putin initiiert, den mittlerweile Psychologen aus über 20 Ländern mitunterzeichnet haben.

Rolf van Dick: Einen Offenen Brief zu schreiben, verfolgt nicht unbedingt die Intention, eine Antwort darauf zu erhalten. Ulrich Wagner und ich dachten, wir können als Psychologen die kriegerische Invasion der Ukraine nicht einfach schweigend hinnehmen. Wir hoffen, dass unsere Gedanken über die Öffentlichkeit dann doch noch den eigentlichen Adressaten erreichen, dem wir den Brief aber auch direkt geschickt haben.

Wladimir Putin scheint seine Führungsfunktion mehr denn je zu inszenieren – soll dies Unangreifbarkeit und Unbesiegbarkeit symbolisieren?

Ja, wir sprechen in der sozialpsychologischen Führungsforschung von der „Prototypikalität“: Eine Führungskraft hat dann besonders viel Macht über das Volk, wenn sie prototypisch die Gruppe vertritt. Das heißt so, wie man sich in Russland einen Mann gerne vorstellen möchte: stark, unverwundbar, dominant gegenüber anderen Mächten. Wir erinnern uns ja noch alle an den Besuch Angela Merkels im Kreml, als Putin diese großen Hunde rumlaufen ließ und die Kanzlerin damit wohl einschüchtern wollte. Das Signal ging dabei an die russische Öffentlichkeit, nicht an den Westen.

Aber deutet diese inszenierte Stärke nicht implizit auch eine Unterlegenheit an?

Man sollte natürlich vorsichtig sein mit Ferndiagnosen. Das hat man im Falle von Trump auch getan, indem man ihm Narzissmus unterstellt hat. Die gleiche Diagnose träfe wohl auch auf Putin zu. Obamas berühmter Satz, Russland sei nur noch eine Regionalmacht, hat Putin offensichtlich sehr verletzt. Die Konsequenzen sehen wir wohl jetzt, natürlich nicht in einem direkten Ursache-Wirkung-Verhältnis.

Sie betonen, dass dieser Krieg nicht allein der von Putin sei.

Ich möchte auf die Parallele zum Nationalsozialismus, zu Hitler und zur Judenvernichtung hinweisen: Hitler hat vermutlich in seinem ganzen Leben keinen einzigen Juden getötet, sondern es haben deutsche Männer und Frauen in Konzentrationslagern, in der SS und anderen Einheiten der Wehrmacht, getan. Es gibt ja historische Studien, zum Beispiel von Daniel Goldhagen in dem Buch „Hitlers willige Vollstrecker“, dass es durchaus immer wieder Fälle gab, wo Menschen sich dem Regime verweigert haben und beim Morden nicht mitgemacht haben, ohne dass sie automatisch verhaftet oder erschossen worden wären. Auf Russland bezogen bedeutet das: Es ist ja nicht Putin selber, der Bomben abfeuert, es sind Soldaten auf allen Ebenen beteiligt, die sich diesem sinnlosen Krieg durchaus verweigern könnten.

Aber in der Bevölkerung ist die Zustimmung zu Putins Politik recht hoch.

Eine in der Sozialpsychologie wichtige Theorie ist die sogenannte Kontakthypothese. Wir haben im Hinblick auf Vorurteile immer wieder zeigen können, dass in den Regionen in Deutschland, in denen ein hoher Anteil an Migranten lebt, die wenigsten Konflikte anzutreffen sind, und umgekehrt. Auf den Konflikt in der Ukraine übertragen könnte das heißen: Seit der Besetzung der Krim hat es kaum noch einen normalen Austausch zwischen den ukrainischen und den russischen Eliten gegeben. Das hat möglicherweise dazu beigetragen, dass man vor allem in Russland für Fake News über das Nachbarland empfänglicher geworden ist, weil man weniger reale Kontakte hat.

Ist aber ein Putin, der mit dem Rücken zur Wand steht, nicht noch gefährlicher?

Die Frage ist doch auch, wie Putin aus dieser Situation wieder herauskommen kann. Nach dem Konfliktmodell von Friedrich Glasl sind es neun Stufen; auf den oberen zwei Stufen geht es nur noch um die Vernichtung des Feindes, selbst wenn der eigene Untergang damit verbunden ist. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, dass die Schranken für den Einsatz nuklearer Waffen hoch sind und sich die Mitglieder des Sicherheitsrates oder die Generäle der Armee dagegen aussprechen. Der Westen sollte jedenfalls alle Gesprächskanäle offenhalten.

Man muss mit Putin weiter verhandeln, selbst wenn er irrational und unberechenbar agiert – ist das nicht paradox?

Ja, aber er wird wohl auch weiterhin Ansprechpartner für Verhandlungen bleiben. Der ukrainische Präsident Selenskij macht das ganz gut, indem er laufend die Kompromissbereitschaft seines Landes signalisiert. Dadurch wird es Putin schwerfallen, sich dem Verhandlungsangebot zu entziehen.

Prof. Thomas Scheffer

UniReport: Herr Prof. Scheffer, der Krieg in der Ukraine dominiert seit fast vier Wochen unser mediales Geschehen. Sie verwenden den Begriff der »Medienkarriere«. Werden existenzielle Probleme nicht (mehr) abgearbeitet?

Prof. Dr. Thomas Scheffer ist Professor für Soziologie und Sozialpsychologie mit dem Schwerpunkt der interpretativen Sozialforschung.

Thomas Scheffer: Der Begriff Medienkarriere klingt erst einmal negativ – als ob die Massenmedien künstlich ein Thema hochpushen, um es dann gleich wieder fallen zu lassen. Dabei geht es im Kern ja um die Frage, wie wir auch mithilfe der Medien überhaupt in die Lage versetzt werden, Bedrohungen und Handlungsbedarfe zu realisieren. Die Medien schärfen also durchaus unsere Sinne für die allgemeine Lage, in der wir uns befinden. Kritisch wird es, wenn die massenmediale Berichterstattung Probleme vor allem verdrängt, leugnet oder nur noch zynisch karikiert. Davon zu unterscheiden sind Verarbeitungsgrenzen, an denen die synchrone Bearbeitung mehrerer existentiellen Fragen zugleich scheitert. Da beobachten wir, trotz des alles überschattenden Krieges allerdings auch Gegenläufiges: Die Frage der Energiewende ist beispielsweise gerade sehr präsent, wenn auch unter einer anderen Überschrift. Außerdem sollte unser Blick auf Medienkarrieren nicht ausblenden, dass zur Realisierung auch die Antworten auf die Probleme gehören. Bloßes Problematisieren führt nur zum rasenden Stillstand.

Bundeskanzler Scholz hat ja mit der gewaltigen Summe von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr seinen Begriff der Zeitenwende nachhaltig unterstrichen. Wie werten Sie das?

Der Zug erinnert mich an die deutsche Globallösung, wie sie sich in Zeiten des Wachstums etabliert hat: Geld kauft Zeit und Stabilität. Richtig ist wohl, den Investitionsstau der Bundeswehr anzugehen, Kapazitätslücken zu schließen und einen ganz Europa erfassenden Krieg als Drohszenario ernst zu nehmen. Ein ähnliches Ausspielen der deutschen Fiskalstärke sehen wir mit der Ankündigung eines noch größeren Sonderguthabens in Höhe von 200 Milliarden Euro für den Klimawandel bereitzustellen. Diese Ankündigungspolitik sowie die fiskalische Verengung der Verantwortung hat auch etwas von Freikaufen; so als sollten die Probleme vom Alltag ferngehalten werden; so als könnten wir alles andere normal weiterlaufen lassen – ja müssten das sogar, um diese Summen aufzubringen. Diese Spendierpolitik stößt spätestens in der Klimafrage an Grenzen, wenn die fossile Industrie und die fossile Infrastruktur zugleich weiter subventioniert und eben nicht entschlossen transformiert werden. Die Spendierpolitik bezweifelt die Zumutbarkeit struktureller Veränderung und führt uns in eine geradezu schizophrene Lebensführung: die um die existenziellen Probleme weiß und zugleich so tut, als bliebe der Alltag davon unberührt.

Die Corona-Pandemie ist zwar immer noch nicht vorbei, aber gerät zunehmend an den Rand der öffentlichen Wahrnehmung. Kann man sich immer nur mit einer Krise beschäftigen?

Ja, trotz rhetorischer Versuche, das zusammen zu betrachten, unterliegt das einem gewissen Verdrängungsmechanismus. Einerseits durch eine Art Normalisierung des Problems; andererseits, weil neue Probleme unsere Aufmerksamkeit erfordern. Dies trägt absurde Züge: Die täglichen 300 Toten der Corona-Pandemie lassen viele heute kalt, weil sie nun jahrelange Realität sind. Anders mit den Toten, Verletzten und verfolgten im Ukraine-Krieg. Sie berühren uns und drängen zum Handeln. Die Aufmerksamkeit schließt unsere Emotionen mit ein. Zugleich wächst aber auch das Gefühl, wir seien von Problemen förmlich eingekesselt. Für viele werden die Abendnachrichten geradezu unerträglich. Wir alle greifen da in der einen oder anderen Form auf Verdrängungsmechanismen zurück.

Sie sind auf dem Feld der interpretativen Sozialforschung unterwegs. Was interessiert Sie als Forscher an der medialen Verarbeitung von Krisen?

Ich komme aus der praxeologischen Schule: Diese Art der Sozialforschung beschäftigt sich mit den alltäglichen Vollzügen, der regelmäßigen Arbeit und untersucht, wie die Gesellschaftsmitglieder gemeinsam soziale Ordnung schaffen. Wir beobachten hier eingeübte, methodische, aber auch bedingte Lösungen für auftauchende und aufgetragene Probleme. Nun sind wir alle aber vermehrt, unabhängig von unserer Spezialisierung und Profession, mit solchen Problemen konfrontiert, die den Erhalt der Gesellschaft fraglich werden lassen: existenzielle Probleme. Uns als Praxeolog*innen interessiert daran, wie nun diese Probleme in den Alltag eindringen, wie sie realisiert oder auch verdrängt werden. Hier spielen die Massenmedien eine gewichtige Rolle. Denn: Was wir über die Welt wissen, wissen wir über die Massenmedien, sagte schon Niklas Luhmann. Auch der Krieg ist vielen heute, anders als unseren Eltern und Großeltern oder den vielen Kriegsflüchtlingen aus Ex-Jugoslawien, Syrien oder nun der Ukraine, vor allem über die Medien bekannt. Die Medien lehren uns für solche Probleme die Anzeichen der Verschlimmerung oder Verbesserung wahrzunehmen, unsere Lage einzuschätzen. Bei der Klimakrise lernen wir beispielsweise, ob wir Wetter- oder Klima-Phänomene beobachten. Hier gibt es geradezu einen allgemeinen Bildungsauftrag der Öffentlich-Rechtlichen Medien: Sie bilden den Common Sense.

Ist das aber ein Garant dafür, dass die Politik die richtigen Entscheidungen trifft?

Es ist wohl eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für politische Verantwortung, also dem Willen wie der Fähigkeit, auf die Probleme politisch zu antworten. Was uns hier in unseren Diskursforschungen aufgefallen ist: Die Gesellschaftsmitglieder nutzen Anzeichen, um ihre aktuelle Lage einzuschätzen und um zu erkennen, was zu tun ist. Die politischen Maßnahmen sind nun selbst solche Anzeichen einer Lage. Wenn die Regierung in der Pandemie, wie aktuell, bestimmte Restriktionen zurücknimmt, vermittelt das den Leuten gleichzeitig etwas über die Schwere des Problems. Genereller: Wenn die niedrigen Zumutbarkeitsgrenzen die Regierung vor gravierenden Maßnahmen zurückschrecken lassen, vermittelt sie den Eindruck, ein Problem sei gar nicht existenziell oder akut. Damit sinken aber Fähigkeit wie Möglichkeit, gesellschaftliche Kräfte zu mobilisieren. Damit wird die Frage der Zumutbarkeit zur Schlüsselfrage im Common Sense, die ja wiederum nicht ohne einen Sinn für die fordernde Problemlage zu beantworten ist.

Fragen: Dirk Frank

Alle Porträtfotos: Uwe Dettmar.

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