In Deutschland ist das Armutsrisiko seit den 1990er-Jahren gestiegen, in Großbritannien gesunken. Den möglichen Gründen dafür ist der Frankfurter Soziologe Jan Brülle in seiner Dissertation nachgegangen – mit einem aufschlussreichen Ergebnis.
Was ist Armut überhaupt? In der Armutsforschung spricht man von „relativer Einkommensarmut“: Wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens in einem Land zur Verfügung hat, ist von Armut bedroht. Er kann sich seltener eine warme Mahlzeit leisten, die Kinder können nicht zu jedem Kindergeburtstag, weil das Geld für ein Geschenk fehlt: Für den Einzelnen ist Armut eine schwere Belastung seiner Lebenssituation. Wie sich Armut aber in einer Gesellschaft entwickelt, das sagt viel aus über deren Verfasstheit und den Wandel, der in dieser Gesellschaft gerade stattfindet. Ein Staat, der allen Mitgliedern ein Mindestmaß an ökonomischer, sozialer und kultureller Teilhabe zugestehen will, muss diese Entwicklung im Auge behalten.
Warum ist das Armutsrisiko in Deutschland seit 1992 kontinuierlich angestiegen, und wie ist die Armut strukturiert? Dieser Ausgangsfrage ist Jan Brülle in seiner Dissertation nachgegangen. Eine für viele naheliegende Hypothese: Es liegt am Rückbau des Wohlfahrtsstaates insbesondere durch die Hartz-Reformen. „Meine Untersuchung hat aber gezeigt: Vor allem der Arbeitsmarkt und die veränderten Familienstrukturen spielen eine Rolle. Danach erst kommen die Veränderungen beim Wohlfahrtsstaat“, erklärt Brülle.
Für seine Studie hat der heute 33-Jährige Datensätze analysiert, die der wissenschaftlichen Forschung vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin zur Verfügung gestellt wurden, das Sozioökonomische Panel (SOEP). So konnte er die Daten von rund 12.000 deutschen Haushalten in seine Untersuchung einbeziehen. Auf britischer Seite nahm er das British Household Panel (BHPS) als Grundlage. Beide Datensätze erlauben, die Situation der Haushalte über mehrere Jahre zu verfolgen.
Sind dieselben Personen von Jahr zu Jahr immer noch arm, oder können sie sich aus der Armut befreien? Wie sieht die Entwicklung hinsichtlich verschiedener Bildungsabschlüsse und Berufsklassen aus? Diese Fragen richtete Brülle sowohl an die Daten aus Deutschland als auch an die aus dem britischen Vergleichspanel. Dabei hat sich gezeigt: In Deutschland wird Armut über den untersuchten Zeitraum immer häufiger, länger und ungleicher verteilt. Je niedriger der Bildungsabschluss, desto stärker ist das Armutsrisiko angestiegen. Auch Arbeiter sind stärker von Armut gefährdet als Angestellte in höheren Positionen. Die Ursachen für diese Entwicklungen zu kennen, das ist nach Brülle die Voraussetzung, um die richtigen politischen Maßnahmen zu ergreifen, die gegen Armut helfen.
In Großbritannien, wo mehr Menschen von Armut betroffen waren als in Deutschland, lässt sich eine umgekehrte Entwicklung beobachten: Gezielte soziale Transfers konnten hier auch hohe Ungleichheiten beim Einkommen entschärfen. Menschen mit geringfügigem Arbeitseinkommen bekommen auch in Deutschland vom Staat etwas hinzu, also so genannte „Aufstocker“. In Großbritannien sei man jedoch großzügiger bei den „Working Tax Credits“, was die Situation der Menschen tatsächlich verbessere, sagt Jan Brülle. Insbesondere wenn Kinder im Haushalt leben, gebe es zusätzliche Zahlungen. In Deutschland sei jedoch klar zu beobachten, dass sich die Situation für ohnehin prekär lebende Personen verfestige, während die Sozialversicherung höhere Einkommen auch bei Arbeitslosigkeit besser absichere als in Großbritannien.
Ursache für das steigende Armutsrisiko ist nach den Erkenntnissen von Jan Brülle vor allem die Polarisierung des Arbeitsmarktes: Immer mehr Menschen können von ihrem Arbeitseinkommen nicht mehr leben. Hinzu kommt, dass es immer mehr Singlehaushalte gibt, das heißt: Immer weniger Personen mit geringen Einkünften können auf die Ressourcen anderer Haushaltsmitglieder zurückgreifen. Und die Reformen beim Wohlfahrtsstaat (Stichwort Hartz IV) haben diese Situation noch verschärft. Das Beispiel Großbritannien zeigt jedoch: Es gibt staatlicherseits durchaus Möglichkeiten, die Entwicklung zum Besseren zu wenden.
Eine ausführliche Zusammenfassung seiner Arbeit hat Jan Brülle für den Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung verfasst. Der Beitrag wurde mit dem mit 5000 Euro dotierten zweiten Preis ausgezeichnet und ist vom 27. August an online auf den Seiten der Stiftung verfügbar. Der Preis wird alljährlich für die neun relevantesten Dissertationen vergeben.
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Quelle: Pressemitteilung vom 27. August 2018