In der gerade erschienen UniReport-Ausgabe 5-2015 beantwortet der Soziologe Tilman Allert Fragen zu seinem neuen Buch »Latte Macchiato. Soziologie der kleinen Dinge«.
Herr Prof. Allert, der Untertitel Ihres Buches lautet „Soziologie der kleinen Dinge“ – was hat das mit dem Pudel und dem Mops auf sich?
Die „kleinen Dinge“ sind gewissermaßen indikatorisch für das Große – und darin zeigt sich, um mit dem Frankfurter Norbert Elias zu sprechen, der Zivilisationsprozess. Welche Konturen nimmt dieser an, welche Gestalten bringt er hervor? Wenn wir mal davon ausgehen, dass der Pudel so etwas wie die Veranschaulichung eines Exzentrizitätsansinnens ist, dann fällt auf, dass es heute vielleicht noch Pudel gibt, aber die nicht mehr das Stadtbild prägen. Die Demonstration von Exzentrizität ist heute allgemein, die Gesellschaft prämiert Einzigartigkeit und ist von daher schrulligkeitstolerant geworden.
Mit dem Mops ist jetzt eine andere Hunderasse ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Die Leute kaufen sich natürlich nicht anstelle eines Pudels einen Mops, das wäre zu einfach gedacht. Der Mops indiziert aber eine Präferenz, die etwas zu tun hat mit dem Wunsch nach Zuwendung unter der Bedingung der Verfügbarkeit. Dieser kleine Hund, er verzeiht mir alles, schaut mich aber auch sehnsüchtig an. Freud hat ja so schön gesagt: „Die Liebe zum Tier ist eine Liebe ohne Ambivalenz“. Dass der Mops heute so attraktiv geworden ist, hat mit der Distanz zu Kindern zu tun. Er ist sozusagen der Hund der demographischen Krise.
Zum titelgebenden „Latte Macchiato“: Erstaunlich, dass Sie dieses Getränk bei den jungen Konsumenten verorten, vermutet man es nicht eher bei reiferen Italien-Liebhabern?
Beides trifft zu. Das Getränk, das im Übrigen gar nicht in Italien, sondern vor allem in Deutschland so beliebt ist, habe ich adoleszenzspezifisch gedeutet: Die Milch ist die des Elternhauses, der Kaffee hingegen der des Erwachsenseins. Erwachsene trinken dieses Getränk, um sich eine Art von Jugendlichkeit zu erhalten. Das sind keine einfachen Kausalitäten, vielmehr werden im Handeln Sinnbezüge wirksam, die gar nicht bewusst sein müssen. Besonders sinnfällig wird die Funktion des Getränks bei den sog. Latte-Macchiato-Müttern, wie man sie in Stadtteilen wie Berlin Prenzlauer Berg findet: Die wollen einfach nicht altern, Prenzlauer Berg ist eine Metapher fürs Nicht-altern-Wollen.
Sie versuchen in Ihrem Buch Persönlichkeiten wie Angela Merkel, aber auch die Modemacherin Jil Sander oder den Schriftsteller Thomas Bernhard anhand der Prägung in Kindheit und Jugend zu erfassen.
In der Biographienreihe der Bürgeruni beschäftigen wir uns schon länger mit verschiedenen Professionen und deren Entstehungsgeschichte. Ich folge da dem Philosophen Dieter Henrich, von dem ich auch die Begrifflichkeit übernehme: Er nennt das „Intellektualgestalt“, eine besondere Konstellation der Familiengeschichte betreffend. Frühe Bahnungen und Weichenstellungen, um mit Max Weber zu sprechen.
Sie stellen in „Latte Macchiato“ Überlegungen an, bei denen Sie sich quasi beim Beobachten selbst beobachten müssen.
Ja, ich glaube, darin liegt die Zukunft unserer Disziplin, der Soziologie: Die liegt in der Phänomenologie, und da liegt entfernt meine Anknüpfung an Adorno: Der Arbeitstitel meines Buches im Gespräch mit dem Lektor war übrigens „Minima Sozialia“. Gemeint ist eine Fortsetzung der phänomenologischen Subtilität, für die Adorno wie kein anderer steht. Adornos Bedeutung erschöpft sich nicht nur in der des Kopfes der Kritischen Theorie. Er verfügte auch über eine sensationelle Beobachtungsgabe.
In Ihrem Als-ob-Nachwort „Bye-bye, Teddy“ grenzen Sie sich von der Frankfurter Schule ab, der Sie vorwerfen, mittlerweile zur „Marke“, zum „Aufdruck fürs T-Shirt“ mutiert zu sein. Muss man den Elfenbeinturm, in dem Adorno manchmal (fest)steckte, zugunsten der phänomenalen Alltagswelt verlassen?
Ja, wobei auch ich diesen Elfenbeinturm, der ja nichts anderes als eine Metapher für die Autonomie von Wissenschaft ist, brauche, um eine phänomenologische Sorgfalt entwickeln zu können. In Frankfurt scheint es mir wichtig darauf hinzuweisen, dass es auch eine Münsteraner Schule um Ritter, Blumenberg und und Odo Marquard gibt, der ich mich viel eher verbunden fühle. Bei aller Sympathie für Adorno, mein Beobachtungs-Über-Ich, als Theoretiker erscheint mir das zu strapaziös.
Was halten Sie von der zunehmenden empirischen Ausrichtung der Soziologie?
Ich hoffe, dass Sie mit empirischer Ausrichtung mich meinen. Ich fände es dann kritisch, wenn es die dominante Ausrichtung werden würde. Wenn die verstehende Soziologie, die sich auf Namen wie Max Weber oder Georg Simmel berufen kann, unter der Dominanz der empirischen Sozialwissenschaft zu schwächeln begänne, fände ich das sehr bedenklich. Ich bin mit Leidenschaft in Frankfurt, weil diese Uni für die beiden Traditionslinien stand und steht.
In einigen Ihrer Artikel spürt man die Klage über eine gewisse Formlosigkeit der heutigen Gesellschaft. Gibt es Anlass zum Kulturpessimismus?
Nein, nicht die Erosion, sondern der Gestaltwandel ist Thema der Soziologie. Wenngleich der in einigen gesellschaftlichen Bereiche sicherlich zu beobachten ist. Von daher ist die Soziologie der Zukunft eine strukturkonservative Disziplin. Mir kommt es vor, als ob sie manchmal unterwegs ist in Sachen Rettung der Formen. Sie ist ein Kind des Bürgertums und bürgerlich ist formbewusst.
Dazu passt ja auch, dass Sie die Entstehung neuer Formen beobachten. Sie nennen das Beispiel von Eltern, die ihren Kindern Wünsche zum Abitur an die Schulmauer heften.
Zweifellos. Das zeigt einen Wandel in der Gestaltung von Eltern-Kind-Beziehungen. Es handelt sich um eine Art von Gewissheitssuggestion: In der Moderne sind die Menschen einerseits zwar von der Flexibilität berauscht, andererseits gibt es aber eine große Sehnsucht nach Gewissheiten. In Köln bricht die Kaiser-Wilhelm-Brücke fast unter der Last kleiner Schlösser, die einen Liebesschwur symbolisieren, zusammen. Auch die Rituale bei den Junggesellinnen- und Junggesellen-Abschieden gehören dazu. Es gibt viel zu untersuchen – „Latte Macchiato 2“ ist bereits in Arbeit (lacht).
Auch die Sprache im Alltag hat es Ihnen angetan.
Die Sprache ist das Haus des Seins, so Heidegger. Ich habe beispielsweise die Verlegenheitsrhetorik von Studierenden beobachtet. Heute hören wir in Editionspausen kein „äh“ mehr, auch kein „irgendwie“, oder „sozusagen“, sondern ein „genau“. Wie kommt das? Die Beobachtung des Sprechens hat im Übrigen eine lange Tradition, in der Phänomenologie, aber auch in der Linguistik. Man kann die Leute natürlich auch fragen: „Wie erziehen Sie Ihre Kinder?“, und dann die Antworten nach dem Schema „häufig/selten/nie“ vorgeben. Ich bevorzuge die Beobachtung.
Sie bringen in einem Beitrag etwas Autobiographisches in das Buch, nämlich Ihre Verbindungen väterlicherseits in den Kaukasus.
Migrationshintergrund, wie das Unwort heute lautet, ist das Stichwort. Ja, aufgehängt am georgischen Gruß: „Gamardschobad“ heißt wörtlich übersetzt „Du mögest siegen“! Vollkommen schräg aus unserer europäischen Perspektive. Dergleichen Gewohnheiten ist kein Kleinkram, sondern hat ganz entscheidend mit dem Zivilisationsprozess zu tun. Der Gruß ist schließlich die Elementargeste schlechthin.
Sie sprechen in einem Artikel über die Figur des Elder Statesman, z. B. über Helmut Schmidt. Sehen Sie sich als Seniorprofessor an der Goethe-Universität in einer ähnlichen Rolle?
Nein, dazu bin ich jung, Schmidt ist über 90. Dass die Älteren die Jüngeren unterrichten sollen, ist für mich eine leitende hochschuldidaktische Maxime. Ich bin ein leidenschaftlicher Lehrer, biete gerne Seminare für Studienanfänger und erst Recht angehende Lehrer an.
Die Fragen stellte Dirk Frank.
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Lesen Sie im kompletten Interview in der UniReport-Ausgabe 5-2015, was den Soziologen an der Bundeskanzlerin Angela Merkel interessiert, was Tilman Allert mit Harald Schmidt verbindet und inwiefern er sich mit seinen Texten von den feuilletonistisch-journalistischen Alltagsbeobachtungen abgrenzt.
(PDF-Download).
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