Wie hat die Corona-Pandemie die Welt verändert?

Nach knapp vier Monaten Corona-Krise stellen sich auch der Wissenschaft viele Fragen: Sind bestimmte Teile der Gesellschaft stärker von den Folgen betroffen, klafft eine Gerechtigkeitslücke? Öffnen sich vielleicht aber auch Wege für neue medizinische, gesellschaftliche, wirtschaftliche und ökologische Ansätze? Forscherinnen und Forscher der Goethe-Universität aus verschiedenen Disziplinen wagen eine Zwischenbilanz und einen Ausblick.


Prof. Dr. Theo Dingermann, Pharmazeutischer Biologe

Auf Katastrophen kann und sollte man sich vorbereiten. Das gilt z.B. für Erdbeben in Erdbebengebieten oder für Tsunamis an gefährdeten Küstenregionen. Dies gilt aber auch für Pandemien, wobei derartige Katastrophen, wie es der Name nahelegt, Vorbereitungen auf der ganzen Welt erfordern. Das ist so leicht dahergesagt wie offensichtlich kaum realisierbar, nicht etwa, weil Ressourcen oder Know-how fehlen, sondern weil das Ausmaß einer Pandemie kaum vorstellbar scheint, die möglichen Probleme irgendwo in der Zukunft liegen und ein kritischer Diskurs über denkbare Lösungsansätze daher keinen Platz auf den aktuellen Agenden findet. Für viele, wenn nicht gar für die meisten, stand eine Pandemie einfach nicht auf dem Zettel. Jetzt ist sie da, und wer glaubt, dass doch alles halb so schlimm gewesen sei, der denkt extrem verkürzt in den Kategorien einer Epidemie. Eine Pandemie ist nun einmal ein globales und kein lokales Problem, und da die ganze Welt quasi unvorbereitet in diese Katastrophe hineinschlidderte, entpuppt sich die Pandemie als ein riesiges, globales „Experiment“ von Trial und Error im Umgang mit den vielfältigen Problemen auf einer mehr oder weniger rationalen, emotionalen, naiven oder populistischen Basis.

Bemerkenswert ist, dass über dieses globale „Experiment“ sehr transparent berichtet wird. Nicht alle Zahlen, die momentan kommuniziert werden, mögen stimmen. Aber eines Tages wird man Bilanz ziehen können. Denn es gibt intrinsische Kontrollen. Weichen beispielsweise Übersterblichkeitsdaten erheblich von den derzeit kommunizierten Pandemie-bedingten Todesfällen ab, wird dies demnächst diejenigen entlarven, die jetzt glauben, manipulieren zu können. Aber auch Versorgungskonzepte – akut klinische, palliative oder soziale – werden sich nach dem Härtetest einer Bewertung stellen müssen. So kann ganz am Schluss jeder für sich resümieren, wer akzeptabel vorbereitet war, wer sich wann von wem gut beraten fühlte, wer bestmöglich oder verantwortungslos entschieden und gehandelt hat und wer mit Augenmaß oder übertrieben an die Grenzen des Legalen oder Zumutbaren gegangen ist. Und die Meinungen werden auch dann auseinandergehen.

Wir erleben gerade eine Naturkatastrophe, die angekündigt war. Sie wird erst dann vorbei sein, wenn ein Impfstoff „für alle“ verfügbar ist. Auf diese Naturkatastrophe war die Welt so gut wie nicht vorbereitet. Das ist der Vorwurf, den sich viele gefallen lassen müssen. Auch diejenigen, die glauben, jetzt schon – also mitten in der Pandemie – ein Resümee ziehen zu müssen.


Prof. Dr. Rainer Forst, Politischer Philosoph

Was wir derzeit erleben, ist aus demokratietheoretischer Perspektive äußerst außergewöhnlich. Eine einzige Rechtfertigung hat es vermocht, den gesamten öffentlichen Raum der Gründe, der die Gesellschaft ordnet, umzupolen. Scheinbar unabänderliche Gesetze des ökonomischen und des sozialen Lebens insgesamt sind außer Kraft gesetzt worden – man geht nicht oder anders zur Arbeit, nicht in die Schule, nicht mehr ältere Menschen besuchen usw. Das geht in diesem Ausmaß nur in einer allgemein geteilten Verbindung von rationalen, moralischen und eigeninteressierten Motiven der Abwendung einer realen Gefahr. Aber was ist hier genau passiert? Hier kommen zwei Lesarten ins Spiel. Der absolutistischen zufolge hat der Staat uns unsere Freiheiten weggenommen, bis uns wieder zugetraut wird, sie gescheit zu nutzen. Die demokratische Lesart wiederum sagt, dass wir kollektiv als Rechtfertigungsgemeinschaft unsere Freiheit in Verantwortung so ausgeübt haben, dass wir es für richtig hielten, uns klug und rücksichtsvoll zu verhalten und dies auch rechtlich festzuschreiben, temporär. Für die Demokratie ist es von großer Relevanz, welche Deutung obsiegen wird. Neben dem absolutistischen sind weitere Missverständnisse zu vermeiden, die die Demokratie beeinträchtigen. Das Virus bedroht alle von uns, aber nicht alle gleichermaßen, genauso wenig wie die Maßnahmen zu seiner Ein dämmung. Es gilt daher, den Fokus nachhaltig so einzustellen, dass die Regelungen besonders vor denen zu rechtfertigen sind, die am verwundbarsten sind.

Ein drittes Missverständnis ist ein kulturalistisches. Die Tendenz besteht, Infektionsherde ethnisch oder religiös zu zuordnen, als ob nicht die Arbeitsbedingungen der Ausbeutung in Schlachtbetrieben, sondern kulturelle Unzuverlässigkeit zur Virusausbreitung führten. Ein viertes Missverständnis ist damit verwandt, ein nationalistisches. Die Krise führte reflexhaft zu einem Abgrenzungsdenken zurück, das selbst innerhalb der EU Schlagbäume herunterließ. Wie so oft wird auf eine globale Heraus-forderung eine nationale Antwort gesucht, und dies ist doppelt falsch – unklug und ungerechtfertigt. Denn wir leben in einer Welt globaler Kooperation, die die wohlhabenden Gesellschaften begünstigt, und dieses System quasi-feudaler Privilegien ist demokratieunverträglich.


Prof. Dr. Nicola Fuchs-Schündeln, Volkswirtin und Vorsitzende des Vereins für Socialpolitik

Zu den frühen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie zählten Schul- und Kitaschließungen, und von einem vollständigen Regelbetrieb sind wir noch weit entfernt. Im politischen Diskurs fanden die längerfristigen Folgen dieser Maßnahmen wenig Beachtung; dies ändert sich erst langsam. Dabei sind Schul- und Kitaschließungen aus mindestens drei Gründen alles andere als gesellschaftlich und wirtschaftlich unbedenklich. Zunächst einmal beruht der wirtschaftliche Erfolg Deutschlands auf seinem Humankapital. Die wirtschaftswissenschaftliche Forschung legt nahe, dass sich die niedrigeren Investitionen in das Humankapital einer ganzen Generation nicht familiär abfangen lassen und für die betroffenen Kinder, damit aber auch für die Wirtschaft insgesamt, langfristige negative Folgen haben werden.

Darüber hinaus beeinträchtigen die Schul- und Kitaschließungen die Chancengleichheit zwischen Schülern aus unterschiedlichen sozioökonomischen Verhältnissen. Schon vor der Coronakrise hing der schulische Erfolg in Deutschland stark vom familiären Hintergrund ab. Im Zuge der Schulschließungen wird die schulische Bildung der Kinder verstärkt in die Hände der Eltern gelegt, die dieser Aufgabe in sehr unterschiedlichem Maße nachkommen können. Zuletzt treffen die Schließungen Mütter und Väter unterschiedlich. Im Zuge der Krise erhöhten bisher vor allem Mütter die Kinderbetreuungszeiten.

Gerade junge Eltern befinden sich in einer für die berufliche Karriere kritischen Phase des Arbeitslebens. Es ist daher zu erwarten, dass sich die Ungleichheit der Geschlechter im Arbeitsmarkt weiter erhöhen wird. Auch in diesem Bereich stand Deutschland bereits vor der Krise im internationalen Vergleich nicht gut da. Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern und zwischen Kindern mit unterschiedlichem familiärem Hintergrund ist nicht nur ein Gut in sich selbst, sondern auch wirtschaftlich wünschenswert. Können sich die Menschen nicht gemäß ihrer Talente am Arbeitsmarkt entfalten, so schadet dies dem Wirtschaftswachstum.


Prof. Dr. Gerhard Minnameier, Wirtschaftspädagoge

Die Corona-Krise hat die Gesellschaft definitiv verändert, lokal wie global. Es gibt gravierende Verhaltensände-rungen, einen unglaublichen Digitalisierungsschub und viel wirtschaftliche Veränderung. Wir „erleben“ jetzt, was wir an sich schon immer wussten: dass wir als Einzelne und als Gesellschaft fragil sowie von anderen und von Umwelteinflüssen abhängig sind. Die Aufgabe ist zu lernen, diese Fragilität in Resilienz zu transformieren. Als Gesellschaft könnten wir lernen, dass wir mehr Europa, mehr globale Steuerung und eine Art Weltinnenpolitik benötigen und schädlichen Nationalismus überwinden. Abgesehen von einigen Gewinnern der Krise sind viele unverschuldet massiv getroffen worden. Die Beispiele sind bekannt. Die betroffenen Menschen und Unternehmen bedürfen solidarischer Unterstützung. Vermögensbesteuerung, spezifische einseitige Förderungen wie die ominöse Abwrackprämie sind aber weder ökonomisch noch ethisch adäquat.

Eine sinnvolle Maßnahme ist die erfolgte Mehrwertsteuersenkung. Auch ein neuer Solidaritätszuschlag wäre m.E. sinnvoll, wenn darüber andere, die massive Einkommensverluste zu verkraften haben, unterstützt würden (etwa durch eine negative Einkommenssteuer). In beiden Fällen kann der Markt zur sinnvollen Verteilung von Lasten und Hilfen beitragen. Not macht bekanntlich erfinderisch. Wir müssen, wie schon angedeutet, in erster Linie Menschen unterstützen (wie z. B. durch Kurzarbeitergeld), nicht direkt Firmen. Das gibt den Betroffenen die Möglichkeit, sich frei zu entscheiden, ob sie ihren Betrieb oder ihre berufliche Tätigkeit fortführen oder sich neu orientieren wollen. Darin steckt Innovationspotenzial. Globale Entwicklungen habe ich bereits angesprochen. Alle müssen lernen, dass isolationistisches Denken zu nichts führt. Natürlich sind lokale Interessen wichtig, ebenso wie ein Verständnis von Interessenskonflikten. Aber man muss verstehen, dass globale wirtschaftliche Verflechtung kein Problem ist, sondern Teil der Lösung, denn sie zwingt uns zur Kooperation auf allen Ebenen. Ohne wirtschaftliche Verflechtung hätten wir vermutlich längst richtigen Krieg.


Prof. Dr. Ulrich Stangier, Psychologe

Die Covid-19-Pandemie ist nicht nur eine ökonomische und gesellschaftliche, sondern auch eine massive psychologische Bedrohung. Ein rasant sich ausbreitender, unkontrollierbarer Virus hat eine angemessene kollektive Angst ausgelöst und zu adaptiven Reaktionen geführt. Wir haben das bislang gut bewältigt. Die Akzeptanz des Herunterfahrens des wirtschaftlichen und öffentlichen Lebens, Einhalten physischer Distanz und Hygienemaßnahmen: Dies sind Anzeichen eines gesteigerten kollektiven Verantwortungsgefühls. Wir schützen durch das Tragen von Schutzmasken andere, weniger uns selbst. Die Einschränkungen der sozialen Aktivitäten haben uns auch gezeigt, wie stark doch unser Bedürfnis nach Kontakt ist.

Eine Patientin drückte dies so aus: „Jetzt, wo mir durch Corona die Einsamkeit aufgezwungen wird, wird mir erst klar, welches Leid ich mir durch meine Depressionen selbst auferlegt hatte.“ Virtueller Kontakt, das ist vielen Menschen spürbar, ersetzt nicht den unmittelbaren physischen Kontakt. Die Digitalisierung wird fortschreiten, aber physische Präsenz wird zu der wertvolleren Erfahrung werden: sich die Hand zu geben, sich gegenseitig ins Gesicht zu schauen, sich umarmen – unsere Bedürfnisse nach Bindung und emotionaler Intimität lassen sich über Bildschirm kaum befriedigen. Die Corona-Krise ist auch eine Herausforderung für das Vertrauen: in das Verantwortungsgefühl von Regierungen, Staat, Medizin und Wissenschaft; und anderer Menschen, die eine Infektionsgefahr mit sich tragen könnten.

Ist dieses Grundvertrauen erschüttert, setzt Realitätsverlust ein und gibt paranoiden Ideen Raum. Viele Menschen können mit der gesellschaftlichen Bedrohung durch Corona nur umgehen, indem sie sich in die Überzeugung retten, dunkle Mächte hätten sich verschworen. Die Erfahrungen aus der Corona-Krise können aus psychologischer Sicht auch eine Chance sein, unsere sozialen Wahrnehmungen und Bedürfnisse wieder ernster zu nehmen. Ein angemessener Umgang mit Angst, Verantwortungsgefühl und Vertrauen sind wichtige Ressourcen, um die gesellschaftlichen und ökonomischen Folgen der Corona-Krise, wie auch der Klimakrise, zu bewältigen.


Prof. Dr. Maria Vehreschild, Infektiologin

In der Krise zeigt sich bekanntlich der wahre Charakter. So haben wir in den letzten Wochen und Monaten auf vielen verschiedenen Ebenen beobachten können, wie bisher nur schemenhaft wahrnehmbare Andeutungen und Tendenzen nun mit Wucht an die Oberfläche drängen. Diese Beobachtung gilt gleichermaßen für die verschiedensten Ebenen unserer Gesellschaft, z. B. private und berufliche zwischenmenschliche Beziehungen, Strukturen und Prozesse, aber auch die gesamtgesellschaftliche politische Dynamik. Besonders einschneidend ist hier für mich die Spaltung unserer Gesellschaft in Menschen, die ihr Grundvertrauen in demokratische, akademische und andere gemeinnützige Institutionen weiterhin bewahren und solche, bei denen es zu einem weitgehenden bis vollständigen Vertrauensentzug gekommen zu sein scheint.

Ein Beispiel im Corona-Kontext wären hier Anhänger von Verschwörungstheorien um die Entstehung und den Umgang mit der Pandemie, die sich zwischen esoterischen bis offen rassistischen Interpretationen bewegen. Gemeinsam ist ihnen allen die vollständige Vernachlässigung von nachprüfbaren Fakten. Dieser Trend lässt sich auch international, aktuell ganz besonders in den USA und Brasilien, beobachten. Es liegt auf der Hand, dass diese Dynamik möglicherweise das Potenzial hat, die demokratischen Grundfesten unserer Gesellschaft ins Wanken zu bringen. Wir müssen also handeln, aber wie? In der Medizin sehen wir regelhaft, dass eine gute Anamnese und Diagnostik eine genaue Diagnosestellung und damit auch eine gezieltere Therapie erlauben. Ohne mich in der soziologischen Forschung diesbezüglich genau auszukennen, besteht bei mir der Eindruck, dass insbesondere das Gefühl der Ohnmacht, der verlorenen Selbstbestimmtheit in vielen Fällen die Wurzel des Problems darstellt.

Das Zusammenfallen einer zunehmend globalisierten Medienlandschaft mit dem weltweiten sozialen Abstieg der Mittelschicht bietet fruchtbaren und gut begründeten Boden für derartige Gefühle. Die Zeichenzahl in diesem Text ist begrenzt, aber es bleibt zu sagen, dass wir die Sache nicht einfach aussitzen sollten. Mit Bezug auf Corona hat sich dieser Ansatz auch nicht bewährt.


Dieser Artikel ist in der Ausgabe 4.20 des UniReport erschienen.

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