Gillian Queisser mag Herausforderungen: Nicht nur, wenn er und seine Frau ihre drei Kinder im Alter von sechs, vier und einem Jahr großziehen, oder wenn er im Schwimmbad, auf der Laufstrecke und auf dem Rennrad für einen Triathlon trainiert. Er lehrt und forscht als Juniorprofessor für „Computational Neuroscience“ am Goethe-Zentrum für wissenschaftliches Rechnen (G-CSC, Goethe Center for Scientific Computing) des Fachbereichs Informatik/Mathematik.
Auf die Frage, was ihn an seinem Fach fasziniert, antwortet er spontan: „Dass wir noch so wenig über unser Gehirn wissen. In den Neurowissenschaften gibt es noch unglaublich viel Neuland zu entdecken und zu betreten, hier stehen wir noch ganz am Anfang“, und nach einigem Zögern fügt er hinzu: „Dafür lassen sich nur sehr schwer Zahlen angeben, aber ich glaube nicht, dass wir schon mehr als zehn Prozent dessen herausgefunden haben, was es über das menschliche Gehirn zu wissen gibt, das spornt mich an.“
Um das Neuland zu erkunden, gehen Wissenschaftler in drei Schritten vor: Zunächst brauchen sie eine neurowissenschaftliche Basis; daher schätzt Queisser bei der Forschung an der Goethe-Universität vor allem die Nähe zu Institutionen wie etwa dem Frankfurter Max-Planck-Institut für Hirnforschung und dem Interdisziplinären Zentrum für Neurowissenschaften. Zweiter Schritt ist es, Gleichungen aufzustellen, die das Verhalten eines Systems beschreiben: Nach welchen Gesetzmäßigkeiten entwickelt sich eine Messgröße, welchen zeitlichen Verlauf nimmt sie?
Nur in ganz wenigen, unrealistischen Spezialfällen haben diese Gleichungen Lösungen, mit denen sich das Ergebnis direkt aus dem Ausgangswert berechnen lässt. Im Allgemeinen muss auch der dritte Schritt gegangen werden: Für jeden einzelnen von typischerweise zehn Millionen Freiheitsgraden muss explizit eine Lösung ermittelt werden, nachdem zunächst eine geeignete Auswahl der Ausgangswerte getroffen wurde; Queisser und seine Kollegen entwickeln dafür schnelle und effiziente Rechenverfahren.
Elektrische Signale und Calcium-Ionen
Neuroscience möchte Queisser dreidimensionale, zeitabhängige Prozesse beschreiben, die in den Nervenzellen des Gehirns ablaufen. „Ich möchte beispielsweise untersuchen, wie im Gehirn die elektrischen Signale verarbeitet werden, mit denen der Körper seine Bewegungen steuert oder die aus der Wahrnehmung von Sinneseindrücken resultieren“, erläutert er. „Außerdem interessiert mich, wie sich eine Verteilung von Calcium-Ionen in einer Nervenzelle zeitlich entwickelt.
Calcium reguliert in den Nervenzellen nämlich verschiedene biochemische Kaskaden, das heißt Abfolgen von biochemischen Reaktionen. Mit denen kann eine Nervenzelle sich verändern, so dass zum Beispiel neue Synapsen entstehen, wenn die dafür nötigen Proteine gemäß den Informationen auf der DNA gebildet werden.“ Umgekehrt wird auch der Calcium-Haushalt einer Nervenzelle von der Anzahl an Synapsen beeinflusst: „Wir fragen uns zum Beispiel, welche Calcium-Signale den Zellkern erreichen, wenn Synapsen verlorengehen“, sagt Queisser, „so wie das zum Beispiel bei Alzheimer-Patienten der Fall ist.“
Die Herausforderung, die in der Verbindung von Biochemie, Medizin und Neurowissenschaften einerseits und Mathematik/Informatik auf der anderen Seite steckt, hat es ihm schon sein ganzes akademisches Leben angetan. So schrieb er seine Mathematik-Diplomarbeit an der Universität Heidelberg über das Thema „Rekonstruktion und Vermessung der Geometrie von Neuronen-Zellkernen“, und in seiner Dissertation in Mathematik ging er der Frage nach, wie in Nervenzellen einer bestimmten Hirnregion die Weiterleitung von Signalen von der exakten Gestalt des Zellkerns abhängt.
Von 2008 bis 2010 hatte er eine Postdoc-Position am Heidelberger Exzellenz-Cluster „Zelluläre Netzwerke“ inne, seither ist er zusätzlich zu der Junior-Professur an der Goethe-Universität einer der leitenden Wissenschaftler am Bernstein-Zentrum für Computational Neuroscience in Heidelberg/Mannheim.
Effiziente Rechnernutzung
In der Verbindung von Neurowissenschaften und Informatik sieht Queisser zugleich eine Chance: „Je mehr wir über die Funktionsweise des Gehirns wissen, desto effizienter werden wir Probleme angehen können – auch solche, die heute vielleicht noch als unlösbar gelten. Daraus erwächst wieder neues Wissen über das Gehirn und so weiter. Dafür sind Fortschritte in der Numerik mindestens genauso wichtig wie die Konstruktion von Höchstleistungsrechnern. Die meisten der heute existierenden Supercomputer werden allerdings nicht effizient genutzt.“
Seine Arbeitsgruppe verwendet für ihre Rechnungen beispielsweise die beiden Rechnerverbünde („Cluster“), die im Untergeschoss des G-CSC-Gebäudes im Kettenhofweg stehen, sowie den Supercomputer der Forschungszentrums Jülich, immerhin der schnellste Rechner in Deutschland und der zweitschnellste in Europa. „Aber wenn Sie ohne geeignete Rechenverfahren und Algorithmen diese unvorstellbar großen Gleichungssysteme lösen wollen, die schon die einfachen Vorgänge in Nervenzellen beschreiben, dann können Sie Supercomputer mit Hunderttausenden oder gar Millionen Prozessoren bauen, und Sie werden doch nie so schnell rechnen können, dass Sie weitergehende Probleme in akzeptabler Zeit lösen.“ [Autorin: Stefanie Hense]