Absage an den Multilateralismus

Der Politikwissenschaftler Gunther Hellmann über den Begriff des Westens, über die amerikanische Innen- und Außenpolitik unter Trump und die künftige deutsche Rolle im europäischen Sicherheitsgefüge

Eklat im Weißen Haus: Vor laufenden Kameras eskaliert Ende Februar ein Streit zwischen Selenskyj, Trump und Vance, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:President_Trump_and_Ukrainian_President_Zelenskyy_Clash_During_Meeting_in_Oval_Office,_Feb._28,_2025.jpg
Eklat im Weißen Haus: Vor laufenden Kameras eskaliert Ende Februar ein Streit
zwischen Selenskyj, Trump und Vance

UniReport: Herr Prof. Hellmann, bei den diesjährigen Römerberggesprächen ging es um „das Ende des Westens“. Manche sehen den Westen emphatisch als eine Wertegemeinschaft. Davon haben Sie sich in Ihrem Vortrag deutlich abgegrenzt, richtig?

Gunther Hellmannn: Der Historiker Heinrich August Winkler sieht den Westen in seiner mehrbändigen „Geschichte des Westens“ gewissermaßen als Akteur, als handelndes Subjekt. Sebastian Conrad hat bei den Römerberggesprächen stattdessen von einer Art Mobilisierungsnarrativ gesprochen, einer Charakterisierung, der ich mich mit meinem Rekurs auf den Begriff des „leeren Signifikanten“ von Ernesto Laclau, einem politischen Theoretiker, anschließen könnte. Ein leerer Signifikant ist ein Signifikant ohne Signifikat. Das heißt, es ist etwas Bezeichnendes, ohne dass die Sache, der Inhalt dessen, was bezeichnet ist, klar ist. Und das hat sehr viele Vorteile. Das trifft meiner Meinung nach auf den Westen zu: Es ist ein allgegenwärtiger Begriff, der keinerlei fixe Bedeutung hat, aber routinemäßig geradezu als selbstverständlich hingenommen wird, obwohl höchst Unterschiedliches damit verknüpft wird. Gerade dadurch eignet er sich aber bestens, um politische Gemeinschaften zu mobilisieren, etwas zu tun oder nicht zu tun. Das hat in den vergangenen Jahrzehnten in beachtenswerter Weise auch geklappt – und zwar nicht nur in Westeuropa und nach der Erweiterung der Europäischen Union den neuen Mitgliedsstaaten der EU plus die USA und Kanada, sondern auch in Australien, Neuseeland und sogar Japan. In dem Sinne ist es natürlich eine Form der Identifikation einer politischen Gemeinschaft, die jenseits staatlicher Grenzen gemeinsame Ideen und Ideale verfolgt und eben auch politisch gemeinsam agiert.

Wenn ich Sie recht verstehe, hat dieser leere Signifikant auch den Vorteil, dass man sich auch anders definieren kann, wie in der augenblicklichen Lage angesichts des sich andeutenden Rückzuges der Amerikaner aus dem Bündnis. Bei den Römerberggesprächen gab es aber durchaus auch kritische Stimmen, die postkolonial argumentierten und den Selbstanspruch des Westens infrage stellten.

Genau, dieser leere Signifikant hat keinerlei fixe Bedeutung. Und so wie wir in diesen westlichen transatlantischen Kontexten sehr viel Positives mit dem Westen assoziieren, ist der Westen für postkoloniale Kritiker eine Kategorie, die Kolonialismus, Ausbeutung und Kapitalismus in einem durchweg negativ konnotierten Sinne assoziiert.

Hat Sie die Abkehr der USA vom Westen überrascht?

Die Art und Weise, wie die Trump-Administration in diesen ersten Wochen und Monaten agiert, kommt in der Grundtendenz nicht wirklich überraschend. Wohl aber in der Intensität und Radikalität, mit der diese Agenda nun sehr professionell verfolgt wird. In der in den Medien geleakten Kommunikation der Administration über einen Angriff auf den Jemen hat Vizepräsident Vance extrem abfällig über die Europäer gesprochen. Das ist mittlerweile der Grundtenor und stellt praktisch alles auf den Kopf, was wir als transatlantische Gemeinschaft in den vergangenen Jahrzehnten gemeinsam gelebt haben. Auch der Besuch von Vance und seiner Delegation in Grönland passt ins Bild – ein ganz und gar unwillkommener Besuch, der die Ambitionen, wie Trump formuliert hat, Grönland irgendwie – “one way or the other” – zu bekommen, nachhaltig unterstreicht. “We’ll get it.”

Trump spricht gerne von „Deals“. Kann man das berüchtigte „Make America great again“ überhaupt noch als eine politische Überzeugung begreifen?

Ja, dieser Spruch steht in der Tat für eine Überzeugung, die in diesem fundamentalen Gegensatz zwischen einer transaktionalistischen oder bilateralistischen Ausrichtung von Außenpolitik auf der einen Seite, und dem, was klassisch eben auch prominent für den Westen stand, nämlich die multilaterale Ausrichtung auf der anderen Seite, den Unterschied markiert. Der Multilateralismus, wie wir ihn seit dem Zweiten Weltkrieg insbesondere in der Manifestation von internationalen Institutionen durch breite Unterstützung der USA erlebt haben, wird in dieser neuen transaktionalistischen Praxis auf den Kopf gestellt. Der Deal ist ja etwas, wo es zwischen zwei Parteien eindeutig um den Vorteil einer Seite geht. Die USA sind in dieser Denkweise die überragende Großmacht. In einem bilateralen Austauschgeschäft kann Trump das Maximale für sich rausholen. Deswegen ist er auch in einer ganz spezifischen Art und Weise fixiert auf die Europäische Union, die historisch erfolgreichste Institutionalisierung multilateraler Zusammenarbeit. Sie ist für ihn eine jener Institutionen, mit denen er nicht klarkommt, weil sie eben nicht diese bilaterale Schiene des Dealmaking verkörpert, wenngleich in gewisser Weise die Europäische Union als ein Ganzes in Handelsfragen auch „bilateral“ mit den USA verhandelt. Aber Trump würde es lieber mit schwächeren Einzelstaaten zu tun haben, weil dann das Machtgefälle deutlich zugunsten der USA ausfiele.

Wenn man mal einen Blick auf die amerikanische Innenpolitik wirft: Wäre es vorstellbar, dass Trump und seine Administration die amerikanische Demokratie nachhaltig schädigen könnten?

Es ist leider alles andere als unvorstellbar. Alles, was sich in diesen ersten Wochen seiner Amtszeit bereits abzeichnet, spricht dafür, dass man diese Dystopie sehr ernst nehmen muss. Der Rechtsstaat wird jetzt bereits systematisch unterwandert, wie etwa in der Art und Weise, wie die Trump-Administration zum Beispiel Migranten ohne Beachtung des ihnen zustehenden Rechtswegs ausweist und außer Landes bringt, Gerichtsurteile einfach ignoriert, Richter attackiert oder Anwaltskanzleien massiv unter Druck setzt. Bedauerlicherweise sind gewisse rechtliche Grundlagen zur Flankierung dieser Vorgehensweise ja in gewisser Weise schon geschaffen: prinzipielle Straffreiheit für den Präsidenten, die das Oberste Gericht unter der aktuellen konservativen Mehrheit Trump bereits eingeräumt hat. Bei John Roberts, dem Chief Justice, ist zumindest in Ansätzen bemerkbar, dass er es bereut, Trump diese Handlungsfreiheit eingeräumt zu haben. Gerade hat Trump zudem betont, dass er „keine Witze“ mache, wenn er eine erneute, dritte Kandidatur für das Weiße Haus, die in der amerikanischen Verfassung explizit ausgeschlossen ist, in Erwägung zieht.

Warum ist es bisher relativ ruhig geblieben in der amerikanischen Öffentlichkeit? Halten sich seine Gegner zurück, weil gar nicht absehbar ist, wo er aufhört oder wen er noch alles ins Visier nimmt?

Die Einschüchterung potenzieller Gegner zeigt sich schon innerhalb der Republikanischen Partei: Da ist es Trump bislang gelungen, sowohl im Senat wie auch im Repräsentantenhaus die Reihen zu schließen, was angesichts knapper Mehrheitsverhältnisse schon eine beachtliche Leistung darstellt. Aber die großen Tests stehen noch bevor. Überraschend ist, wie desolat sich die demokratische Opposition geriert. Natürlich war die herbe Wahlniederlage für die Demokraten massiv enttäuschend und zu Beginn desorientierend. Zudem laugt Trump die Kräfte einfach aus. Dass aber bislang noch keine klare Oppositionsstrategie aufseiten der Demokraten im Kongress erkennbar ist, ist nicht leicht erklärbar und liegt sicher nicht an ihrer Einschüchterung. Beachtliche demokratische Zugewinne in jüngsten Kongress-Nachwahlen in Florida und vor allem der Gewinn der Richterwahl für den Obersten Gerichtshof von Wisconsin gegen den massiven Versuch Elon Musks, mit Geldprämien den republikanischen Kandidaten durchzusetzen, könnten aber den Beginn einer Wende markieren.

Zurück zur Situation diesseits des Atlantiks: Die Europäer müssen für die eigene Verteidigung offensichtlich mehr tun. Der Begriff der Aufrüstung fällt mittlerweile im Unterschied zu früheren Dekaden recht häufig. Aber sehen Sie nicht auch eine große Herausforderung, dass die notwendigen Investitionen in die militärische Infrastruktur der Bevölkerung vermittelt werden müssen? Und was bedeutet das für den wahrscheinlich künftigen Bundeskanzler Merz?

Wenn man sich die Umfragedaten in Deutschland ansieht, zeigt sich, dass eine deutliche Mehrheit von drei Vierteln eine bessere Ausstattung der Bundeswehr befürwortet, selbst wenn dafür neue Schulden gemacht werden müssen. Und fast die Hälfte würde solche höheren Verteidigungsausgaben auch dann noch unterstützen, wenn Einschnitte im Sozial-, Umwelt oder Kulturbereich in Kauf genommen werden müssten. Ich merke das auch bei meinen Studierenden: Die Bereitschaft, sich sicherheitspolitisch neu aufzustellen und auch klare Positionen zu beziehen, ist deutlich ausgeprägter als in früheren Generationen. Auch wenn im Ausland bestimmte Klischees kursieren mögen, dass die Deutschen unheilbar „antimilitaristisch“ seien, sehe ich eine deutliche mentale Verschiebung hin zu der Einsicht der Notwendigkeit, dass wir als Deutsche in der Europäischen Union auch sicherheitspolitisch gewisse Führungsaufgaben übernehmen müssen. Jürgen Habermas hat jüngst in einem Beitrag in der SZ allerdings zu Recht darauf hingewiesen, dass es in dem Maße in dem deutsche Macht auch militärisch sichtbarer wird, umso wichtiger wird, unsere Verlässlichkeit und weitergehende Integrationsbereitschaft gegenüber unseren Verbündeten in der Europäischen Union zu unterstreichen. Das muss sich beides ergänzen. In dieser Hinsicht stehen für die neue Bundesregierung unter Merz einige große Tests in den kommenden Jahren an.

Sie agieren als Politikwissenschaftler in einer medialen Öffentlichkeit, in der spätestens seit dem Krieg gegen die Ukraine verstärkt auch nach militärischer Expertise gefragt wird. Muss sich die Politikwissenschaft entsprechend neu ausrichten?

In den letzten 20 Jahren hat sich bereits eine deutliche Verschiebung vollzogen: Die Politikwissenschaft wird heute als Disziplin im öffentlichen Diskurs viel stärker wahrgenommen. Themen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik standen im medialen Diskurs früher klassischerweise eher am Rande. Seit der russischen Eskalation des Krieges auf die Ukraine im Februar 2022 hat sich das spürbar verändert. Das ist für unsere Disziplin eine wichtige Veränderung und Herausforderung. Vor ein paar Monaten ist ein Beitrag von mir über unser Selbstverständnis als Politikwissenschaft in Kriegszeiten erschienen. Ich nehme darin kritisch Bezug auf die Art und Weise, wie wir uns als Wissenschaft in der Öffentlichkeit präsentieren. Besonders in den Talkshows ist häufig die Zeit viel zu knapp bemessen, um einen Gedanken differenziert genug darzulegen. Da neigen wir Politikwissenschaftler unter dem Zwang der medialen Rahmenbedingungen manchmal dazu, etwas vorschnell zu agieren. Mein Argument lautet: Wir müssen als Wissenschaft darauf achten, dass unsere Themen auch in einem medialen Umfeld differenziert erörtert und nach unseren fachinternen Bedingungen auch strukturiert werden können. Das ist eine Anforderung, die gerade in diesen Zeiten sehr deutlich wird.

Prof. Dr. Gunther Hellmann ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Deutsche und Europäische Außenpolitik an der Goethe-Universität. Am Forschungskolleg Humanwissenschaften leitet er gemeinsam mit dem Amerikanisten Prof. Dr. Johannes Völz das John McCloy Transatlantic Forum sowie den damit verbundenen interdisziplinären Forschungsschwerpunkt „Democratic Vistas. Reflections on the Atlantic World“.

Zum Weiterlesen
Gunther Hellmann: Erwartungen, Bringschuldpflichten und Wissenskommunikation. Die IB und ihr Verhältnis zu Politik und Gesellschaft (nicht nur in Kriegszeiten). In: ZIB Zeitschrift für Internationale Beziehungen, Jg. 31 (2024), Heft 2, S. 138 –164.

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