In „Der Philosoph: Habermas und wir“ von Philipp Felsch verschränken sich Zeit- und Geistesgeschichte in der Figur eines großen Frankfurter Denkers. Eine Rezension von Felix Kämper
In seinem neuen Buch entwirft der Kulturwissenschaftler und Essayist Philipp Felsch ein philosophisch-politisches Porträt des bedeutendsten lebenden Vertreters der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Die 22 Abschnitte von Der Philosoph: Habermas und wir kreisen in loser chronologischer Reihenfolge um verschiedenste Aspekte von Habermas’ Wirken. Mal geht es um seine öffentlichen Interventionen, mal um seinen Seminar- und Schreibstil, oft um intellektuelle Freund- und Feindschaften – sowie Übergänge vom einen zum anderen. Auch manche theoretischen Grundgedanken finden Erwähnung. Doch Felsch erhellt nicht allein den Denker Habermas. Von der Auseinandersetzung fällt vielmehr auch ein Licht auf das bundesrepublikanische Zeitgeschehen. Je nach Blickwinkel eröffnet sich der Leser*in, wie bei einem Wackelbild, entweder die intellectual history des Kritischen Theoretikers oder die politische Geistesgeschichte der Bundesrepublik. Dabei schlüsselt Felsch die unterschiedlichen Aspekte wie Fremdwörter auf, deren Bedeutung sich aus ihrem Kontext ergibt. Er schreibt über Konstellationen und ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Ein unprätentiöser Denker
In seinen vorherigen Büchern hatte Felsch den Blick noch auf Antipoden von Habermas gerichtet: auf die französischen Autoren der Postmoderne in Der lange Sommer der Theorie (2015) und ihren geistigen Wegbereiter in Wie Nietzsche aus der Kälte kam (2022). Bei der Lektüre des ersten Abschnitts von Der Philosoph drängt sich derweil der Eindruck auf, dass er die Seiten gewechselt hat. Felsch berichtet von einem Besuch, den er Habermas in dessen Haus in Starnberg abgestattet hat. Beeindruckt zeigt er sich insbesondere von dem unprätentiösen Auftreten dieser geistesgeschichtlichen, alles andere als grauen, Eminenz. Über diesen Eingangsteil hinaus trägt das Porträt aber keine ehrerbietigen Züge. Felsch rekonstruiert die Gründe für Habermas’ Standpunkte, ohne sich dazu zu positionieren. Nur an wenigen Stellen weicht er davon in seiner Beschäftigung mit der Doppelrolle von Habermas ab, „der als Philosoph wie kaum ein anderer ins Überzeitlich-Allgemeine zielte, während er als öffentlicher Intellektueller …auf die spezifische historische Situation reagierte“ (17), und lässt sein eigenes Urteil einfließen.
Im Anschluss macht Felsch gelungen anschaulich, wie sich der Wunsch nach einem politischen Neuanfang, der nicht bloß auf eine Befriedigung des Normalitätsbedürfnisses der Nachkriegsgesellschaft abzielt, bei dem jungen Habermas mit der Abkehr von der Philosophie Heideggers und einer Hinwendung zu jüdischen Denkern verbindet. So teilt er mit Theodor W. Adorno die Auffassung, in einer „verkehrten Welt“ (19) zu leben, die eingehender Aufklärung bedarf. Zugleich schlägt er in seiner Gesellschaftskritik andere Wege als sein Lehrer ein: Neben innovativen inhaltlichen Weichenstellungen treibt er ihr die suggestiven und ethischen Momente aus, um weniger als „Weltanschauungsproduzent“ (35) daherzukommen. Während er mit diesem Denkstil in New York zu reüssieren vermag, kommt es in Frankfurt zu einer Entfremdung mit der Studentenbewegung. Habermas, dessen „Hang zu Konfrontation und Polemik“ (55) sich gegen deren, wie er es nennt, scheinrevolutionäres Begehren wendet, ist in den Augen vieler 68er*innen zu moderat und liberal.
Kommunikation und Kritik
Die entscheidende wissenschaftliche Wende zur Sprachphilosophie vollzieht er mit dem Wechsel als Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt einige Jahre später. Normativer Ankerpunkt seines Ansatzes ist die ideale Sprechsituation. Wie Felsch darlegt, ist die Idee dahinter nicht die einer Antizipation eines herrschaftsfreien Diskurses, sondern die einer unerlässlichen Präsupposition von Kommunikation. Der Stachel jener Kritik vom mangelnden „Realitätsgehalt“ (72), in der so gegensätzliche Forscher wie Ralf Dahrendorf, Robert Spaemann, Niklas Luhmann, Michel Foucault und Dieter Henrich zusammenstimmen, ließe sich so ein Stück weit ziehen. Habermas’ Überlegungen münden 1981 in die Theorie des kommunikativen Handelns, die der Autor durchaus lehrreich einordnet. Er bewertet sie als Versuch, „den Konservativen“, die den Deutschen Herbst als Anlass zur Agitation gegen gesellschaftskritische Akteure nahmen, „die Deutungshoheit zu entwinden“ (90). Für seine Diagnose einer kolonialisierten Lebenswelt blies Habermas freilich starker Gegenwind ins Gesicht, von konservativen und liberalen Zeitgenossen ebenso wie von marxistischen, unter denen sich „das Motiv vom staatstragenden Denker“ (98) breitmachte.
Dieses Motiv nimmt Felsch aber etwas zu stark auf. Dass Habermas die Bundesrepublik zunehmend als „epochale Erfolgsgeschichte“ (76) sah und die Systemfrage zurückstellte, mag bedingt zutreffen. Doch dass es in den 80ern zur „Versöhnung“ (109) kam, er in ihr gar eine „konkrete Utopie“ (161f.) erblickte, ist eine verzerrte Darstellung. Der Autor erliegt an dieser Stelle einem Schwarz-Weiß-Denken, das „Sicherheit in der falschen Eindeutigkeit gewaltsam hergestellter Dichotomien“ sucht – einem Denken, das Habermas im Zuge seiner Verteidigung zivilen Ungehorsams „wider den autoritären Legalismus in der Bundesrepublik“ von 1983 scharf verurteilt.
Die Bemerkung, dass seine Haltung vom „Gestus eines Rechtshegelianers“ (172) kaum zu unterscheiden ist, schlägt dem in dieser Hinsicht ohnehin löcherigen Fass den Boden aus. So ergibt sich zum Beispiel aus dem ersten Kapitel von Auch eine Geschichte der Philosophie klar, dass Habermas noch immer auf gesunden Abstand zu verklärend-versöhnlichen Denkungsarten geht.
Lehren aus der Vergangenheit
Die Debatte, mit der Habermas sich wohl am tiefsten in die deutsche Geistesgeschichte einschrieb, ist der Historikerstreit um Singularität und Bedeutung des Holocaust für das Nationalbewusstsein. Seine Breitseite gegen die revisionistischen Tendenzen einiger Geschichtswissenschaftler deutet Felsch als „Coup“ (123) und damit als Paradebeispiel strategischen Handelns. Von dort aus beleuchtet er die jüngere Debatte über hiesige Auswirkungen der Gewalt im Nahen Osten, in der Habermas erneut Stellung bezogen hat. Felsch stellt infrage, ob die Singularitätsthese mit dem Prinzip, das die Würde jedes Menschen gleich viel zählt, zu vereinen ist. Es stimmt, eine falsch verstandene Singularität und Solidarität kann dazu verleiten, über die Verpflichtungen, die aus dem Menschheitsverbrechen der Shoah erwachsen, andere Pflichten zu vernachlässigen. Dem muss aber nicht so sein. Das Bekenntnis zu den Schrecken des Nationalsozialismus und der Auftrag, der Wiederholung von Auschwitz entgegenzuwirken, muss nicht zur Blindheit für andere Verbrechen wie denen israelischer Politiker oder Militärs führen. Solange historische Verantwortung nicht zu einem Alibi verkommt, ist nicht ersichtlich, wieso sie einer universalistischen Gesinnung zuwiderlaufen sollte.
Neue Dringlichkeit gewann das Problem des deutschen Nationalbewusstseins mit dem Mauerfall. Habermas, der einen Verfassungspatriotismus für die einzige unbedenkliche Option hielt, warb hinsichtlich der Wiedervereinigung für „eine gesamtdeutsche verfassungsgebende Versammlung“ (164). Und um nationalistische Tendenzen auch zukünftig einzudämmen, plädierte er fortan außerdem für die europäische Integration. Auf beiden Ebenen hoffte er auf eine umwälzende rekursive Identitätsbildung mittels Deliberation, wie Felsch treffend herausstellt. Nach der Betrachtung von Habermas’ Ansichten zum Krieg, vor allem dem in der Ukraine, endet das Porträt mit einem erneuten Zusammentreffen im Herbst letzten Jahres. Die düstere Zeitdiagnose, die der aufklärerische Denker bei diesem Anlass zeichnet, verdeutlicht, wie frustriert er von den gegenwärtigen Entwicklungen ist. Aber anders als für Boethius, der in dunklen Stunden Zuspruch bei der Philosophie suchte, eignet sich Theorie für Habermas nicht als Trostpflaster für tragische Ereignisse.
Im Spiegel der Zeitgeschichte
Der Philosoph: Habermas und wir ist ein lebendiges Buch, das spannende zeitgeschichtliche Zugänge zu einem der weltweit wichtigsten Denker eröffnet. Was dessen Texte an den für ein populäres Porträt unerlässlichen persönlichen Einblicken vermissen lassen, gleicht der Autor geschickt mit den Spannungsverhältnissen zu anderen Intellektuellen wie Martin Walser, Karl Heinz Bohrer und Hans Magnus Enzensberger aus. Ein interessanter Gang durch Habermas’ Briefwechsel hätte alternativ darin bestehen können, diesen weniger auf den Überbau und mehr auf die Basis hin zu untersuchen: Was waren die Ermöglichungsbedingungen des Projekts Habermas? Auf welche Strukturen und Mitarbeiter*innen war er angewiesen, um eine derartige Produktivität zu entfalten? Man denke etwa an seine Aussage, dass er der Sicherheit durch eine „bürgerliche Lebensform“ bedurfte, um „nicht mit allzu viel Angst denken zu können“ (105). Gewiss gibt es Anreize zur Anpassung, die auf subtilere Weise wirken als Angst (wie man nicht zuletzt von seinem postmodernen Konterpart Foucault lernen kann). So oder so fragt es sich mit Bezug auf aktuelle Vorgänge, was man etwa von der geplanten Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes halten soll, wenn man diese Einsichten ernst nimmt.
Mehr erfahren zu „Der Philosoph: Habermas und wir“ kann man beim Book-Talk zwischen dem Autor Philipp Felsch und Martin Saar, Professor für Sozialphilosophie, am 30. April um 18 Uhr im Eisenhower Saal des IG-Farben-Hauses. Und zum Thema »Demokratie in Zeiten der Regression« finden am 6. Mai um 19 Uhr im Klingspor Museum die Goethe Lectures Offenbach mit Rainer Forst statt, Professor für Politische Theorie und Philosophie und Direktor des Forschungszentrums „Normative Ordnungen“.
Felix Kämper arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungszentrum »Normative Ordnungen«. Im Mittelpunkt seiner Forschung stehen normative sowie zeitdiagnostische Fragen des gesellschaftlichen Verhältnisses zur Umwelt. Der Titel seiner Dissertation lautet Vernunft und Natur: Kritische Theorie der Gesellschaft und ihrer Umwelt.