Hauptberuflich studieren, nebenberuflich pflegen?

Das erziehungswissenschaftliche Projekt »InterCare« will erforschen, wie junge Menschen die Doppelbelastung von Ausbildung/Studium und Pflege bewältigen. Offizieller Start des Projekts, das über vier Jahre hinweg mit 1,2 Millionen Euro von der VolkswagenStiftung gefördert wird, ist im Oktober 2024. Die Soziologin und Altersforscherin Dr. Anna Wanka koordiniert InterCare und erläutert das Design des Projekts.

UniReport: Frau Dr. Wanka, man weiß natürlich, dass viele Menschen ältere Familienangehörige pflegen. Seit wann weiß man, dass das zunehmend auch junge Menschen in Ausbildung und Studium betrifft?

Anna Wanka: Ich habe ungefähr seit 2018 begonnen, zu dem Thema zu forschen, vor allem mit einem Fokus auf pflegende Studierende an Hochschulen. Ich bin über einen Studierenden in einem Seminar auf das Thema gestoßen. Er bat um eine Verlängerung der Prüfungsfristen, weil er sich um seine Großeltern kümmere. Darauf habe ich mal bei uns in der Lehrendenkonferenz nachgehört. Bislang ist die Pflege von Familienangehörigen ja kein Grund für einen Nachteilsausgleich. Von meinem Kollegen Moritz Hess, der an der Hochschule für Soziale Arbeit arbeitet, hörte ich, dass das dort ein riesiges Thema sei. Dort sind die Studierenden zum Teil etwas älter und verfügen bereits über Berufserfahrung, sind grundsätzlich an sozialen Themen interessiert. Wir haben dann gemeinsam überlegt, ein Projekt dazu aufzusetzen, auch weil wir wussten, dass bereits zu den sogenannten Young Adult Carers (YAC) geforscht wird.

Wie sieht es mit der Forschung zu bereits erwachsenen jungen Pflegenden aus?

Um dem nachzugehen, haben wir zuerst einmal an der Goethe-Universität im Rahmen eines „kleinen Genderprojektes“ eine kleine explorative Studie durchgeführt. Wir wollten qualitative Interviews mit pflegenden Studierenden führen. Die Frage war: Gibt es die überhaupt, kommen wir an die ran, in welchen Lebenssituationen befinden die sich? Wir haben dann überraschend viel Zulauf bekommen. Praktisch in jedem Seminar gab es Personen, die uns von ihren Pflegeverpflichtungen erzählt haben. Aber bei der Literaturrecherche zum Thema mussten wir feststellen, dass es zumindest in Deutschland dazu noch wenig gibt. In der bundesweiten Studierendenerhebung 2021 konnte ermittelt werden, dass deutschlandweit ungefähr 12 Prozent der Studierenden Angehörige pflegen. Das übertrifft sogar die Zahl der Studierenden mit Kindern. Wir haben dann einen Antrag bei der VolkswagenStiftung gestellt und konnten uns im Call für „Intergenerational Futures“ durchsetzen.

Sie untersuchen Auszubildende und Studierende, die ihre Eltern pflegen, manchmal können es aber auch die Großeltern sein, richtig?

Ja, insgesamt sind die Pflegesituationen sehr divers. Es gibt einerseits Personen, die pflegen ihre Großeltern mit Demenzerkrankungen oder mit altersbedingten Mobilitätseinschränkungen. Aber einige pflegen Eltern oder Schwiegereltern, die zum Beispiel mit Anfang 50 an Krebs erkrankt sind. Es lässt sich auch ein interessanter Aspekt beobachten: Personen, die davon berichteten, zuerst ihre Großeltern gepflegt zu haben; als dann ihre Eltern pflegebedürftig wurden, wurde von den anderen Angehörigen erwartet, dass man nun auch diese Aufgabe übernimmt. Wir gehen davon aus, dass das dann auch wirklich langfristige Lebenslaufeffekte hat.

Gehört zur Pflege eigentlich auch ein »bloßes« Sich-Kümmern um bestimmte Dinge des Alltags, lässt sich das klar voneinander trennen?

Wir haben uns dafür entschieden, den Begriff recht weit auszulegen, damit sich die Personen, die sich angesprochen fühlen, dann auch wirklich melden. Nach unserer Erfahrung unterschätzt man nämlich eher die eigene Pflegeleistung. Wir werden wahrscheinlich irgendwann in unserer Forschung eine Abgrenzung vornehmen, nach Vorbild der Kinderbetreuung, wonach dann beispielsweise alles über fünf Stunden pro Woche als Pflege gilt. Auf welchen Punkt wir aber hinauswollen: Eigentlich war fast jeder Studierende in einer Betreuungs- oder Unterstützungssituation, was bedeutet, dass darunter das Studium gelitten hat. An den Hochschulen dominiert leider immer noch das Bild der Vollzeitstudierenden, die weder erwerbstätig sind noch Kinder haben oder ältere Menschen betreuen und pflegen.

Das sollte auch grundsätzlich von jedem Arbeitgeber beachtet werden: Nicht nur die Betreuung der eigenen Kinder kann bedeuten, dass der Arbeitnehmer bestimmte Auszeiten benötigt, sondern auch die Pflege von Familienangehörigen.

Richtig. Mit Blick auf den demografischen Wandel wird das Problem eher größer als kleiner werden. Der Fachkräfte- und Pflegekräftemangel könnte bedeuten, dass Familien viel mehr Aufgaben übernehmen müssen. Durch die höhere Lebenserwartung ist die ältere Generation oft auch noch erwerbstätig und, was die Versorgung der Großelterngeneration angeht, nicht so flexibel. Diese mittlere „Sandwich-Generation“ wird diese Aufgabe dann an die Jüngeren der Familie delegieren. In dem VW-Projekt werden wir auch ländervergleichend forschen und haben neben Deutschland und Großbritannien auch noch Polen dabei. Dort hat sich die Versorgungslage jetzt schon sehr verschärft, weil viele professionelle Pflegekräfte in den Westen gegangen sind. Das erhöht den Druck auf die Jüngeren, die noch in der Ausbildung sind und somit vor Ort sich um die pflegebedürftige Verwandtschaft kümmern müssen.

Können Sie etwas zum Design der Studie sagen?

In unserem Projekt verwenden wir ein sogenanntes Mixed-Methods-Research-Design: Wir starten mit einer quantitativen, repräsentativen Erhebung. Wir werden zuerst in den drei Ländern landesweit erheben, wie viele Menschen in Ausbildung Pflegeverpflichtungen haben. Gefragt werden soll auch, was das für sie bedeutet, welche Tätigkeiten sie ausüben, inwieweit das deren Ausbildung, aber auch ihre psychische und physische Gesundheit und sonstige Lebensbereiche beeinträchtigt. Auf Basis dieser Ergebnisse schauen wir uns Pflege-Dyaden an, interviewen die gepflegte und die pflegende Person einerseits gemeinsam, aber auch getrennt voneinander, um bestimmte Themen dann anzusprechen, die vielleicht in dieser Beziehung nicht sagbar sind wie zum Beispiel Gewalt, Scham oder Schuldgefühle. Dazu kommen dann noch im Rahmen einer Delphi-Befragung Gespräche mit Stakeholdern, also mit Menschen, die im Bereich von Policy und Gestaltung von Hochschulpolitik zum Beispiel, aber auch von Pflegepolitik tätig sind; ebenfalls Verantwortungsträger*innen an Ausbildungsstätten und Organisationen. Was ist den Expert*innen eigentlich schon über pflegende Auszubildende oder Studierende bekannt, wo bräuchten sie noch Informationen, was bedarf es an strukturellen Veränderungen? Wir verfolgen darüber hinaus ein partizipatives Design, arbeiten von Anfang an einerseits mit Pflegenden als auch mit Gepflegten zusammen. In sogenannten Innovation Labs wollen wir dann gemeinsam Maßnahmen an Unterstützungsangeboten und Awareness-Raising entwickeln. Geplant sind ferner auch Ausstellungen und Podcasts zum Thema – mehr Sichtbarkeit herzustellen ist uns ein großes Anliegen.

Nun könnte man ja sagen: Es gibt natürlich auch jüngere Menschen, die jetzt nicht mehr in der Ausbildung sind oder studieren, die in Ihrer Studie nicht erfasst werden.

Wir fokussieren uns erstmal auf den genannten Personenkreis, damit wir dann auch Praxisimplikationen für die Ausbildungsorganisationen formulieren können. Aber es ist natürlich so, dass der von uns befragte Personenkreis nicht nur pflegt, sondern eben auch noch erwerbstätig ist neben der Ausbildung. Und wir wissen eben auch schon aus Studien, zum Beispiel aus Großbritannien, dass viele Personen die Ausbildung auch abbrechen, weil sie das mit der Pflege nicht vereinbaren können.

Ihr Thema steht ohnehin im größeren Rahmen eines massiven demografischen Wandels.

Im Zuge einer Diversifizierung werden unsere Studierenden zum Teil auch vom Alter her diverser werden. So werden Personen, die sich mit Mitte 30 oder 40 nochmal für ein Studium entscheiden, natürlich auch ältere Eltern oder Großeltern als ihre jüngeren Kommilitonen haben. Aus der Altersforschung wissen wir auch, dass Menschen, die in körperlichen Berufen gearbeitet haben, früher und länger pflegebedürftig sind. Das bedeutet, dass Studierende, die aus Nichtakademiker*innen-Haushalten an die Uni kommen, Eltern haben, bei denen eine höhere Pflegewahrscheinlichkeit vorliegt.

Kann nicht andererseits die Pflege von älteren Angehörigen auch als etwas gesehen werden, was den Zusammenhalt von Familien stärkt? Zudem es sich wahrscheinlich auch um eine Art von anthropologischer Konstante handelt, dass sich die Jüngeren um die Älteren kümmern.

Definitiv. Wir wollen uns das Thema nicht nur unter einer Defizit-Perspektive anschauen.  Denn sowohl für die Pflegenden als auch für die gepflegte Person bedeutet das auch einen intergenerationalen Austausch, es verbessert die Beziehungen, auch die Softskills. Wir sprachen kürzlich mit einer Pflegenden, die anfangs Jura studierte und das abgebrochen hat, weil sie sich um ihre demenzkranke Großmutter gekümmert hat. Sie hat dann gemerkt, dass sie eigentlich sehr gut mit älteren Menschen mit Demenz umgehen kann. Sie hat sich dann entschlossen, Soziale Arbeit zu studieren, und möchte einen Bauernhof speziell für Demenzkranke eröffnen. Solche Beispiele findet man auch, ohne das jetzt künstlich romantisieren zu wollen.

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