Das Projekt „Lost in Archives“ möchte innovative Frauen des 18. und 19. Jahrhunderts, die über die Zeit in Vergessenheit geraten oder gar unsichtbar gemacht wurden, archivarisch erschließen und sichtbarer machen.
Unter dem Stichwort ‚Kanonkritik‘, ‚Die Kanon‘ oder ‚breiter Kanon‘ wurde in den letzten Jahrzehnten diskutiert, wer Einzug in Literaturlisten, Abiturpläne und Uniseminare erhält. Immer wieder wurde gefordert: Mehr Frauen sollen gelesen werden. Was ist aber mit jenen Frauen, die in ihrer Zeit auf innovative und teilweise auch erfolgreiche Weise geschrieben, übersetzt und rezensiert haben, aber heute vergessen sind? Ein Desiderat für die Forschung, diesen Missstand zu beheben. Im interdisziplinären Projekt „Lost in Archives“, das an drei Universitäten verankert ist, sollen in den Bereichen Literaturkritik, Theaterwesen und Militärliteratur im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert die bislang unbekannten Beiträge von Frauen recherchiert und erschlossen werden. Dr. Marília Jöhnk, Komparatistin und Romanistin an der Goethe-Universität, wird im gemeinsamen Projekt mit der Universität der Bundeswehr und der Ludwig-Maximilians-Universität München den Bereich Literaturkritik betreuen.
Der Weg ins Archiv
Die Unsichtbaren sichtbar machen: Wie kann das funktionieren, wenn die Frauen heute niemand oder kaum jemand mehr kennt, wie kann sich die Forschung diese für die kollektive Erinnerung weitgehend Verschollenen überhaupt erschließen? Ein Paradox? „Es geht dabei vor allem um Archivforschung“, betont Jöhnk, und erläutert die Mechanismen der Unsichtbarmachung: „Ein Kanon reproduziert sich in gewisser Weise immer selbst. Dadurch entsteht die Frage: Gibt es eigentlich nicht noch viel mehr im Archiv, was noch gar nicht Einzug gehalten hat in den Kanon, aber auch in die zahlreichen Forschungsarbeiten? Denn viele wissenschaftliche Arbeiten basieren nicht unbedingt auf Archivarbeit.“ Wenn eine Autorin in der heutigen Zeit unbekannt sei, fährt Jöhnk fort, bedeute dies nicht unbedingt, dass auch die Zeitgenossen sie nicht gekannt hätten. Einige bekannte Übersetzerinnen und Literaturkritikerinnen seien erst später von der Historiographie und der Literaturgeschichtsschreibung sozusagen „gestrichen“ worden. Man unterscheide dabei zwischen verschiedenen Graden an Unsichtbarkeiten. Autorinnen wie Sophie von La Roche oder Luise Gottsched seien zwar heute noch bekannt, aber nicht in vergleichbare Weise über moderne Ausgaben ihrer Werke zu erschließen wie ihre männlichen Kollegen. Jöhnk betont: „Es geht uns nicht darum, Literaturkritik von Frauen in irgendeiner Form zu essenzialisieren, im Sinne von: ‚weibliche Literaturkritik ist anders‘. Es geht aber darum, den Horizont zu erweitern. Denn in vielen historischen Forschungsarbeiten zur Literaturkritik spielen Frauen nahezu keine Rolle.“
Wenn man aufspüren möchte, auf welchen Feldern Frauen um 1800 tätig waren, sind die konventionellen Recherchewege oft nicht zielführend. Über die Rekonstruktion damaliger Netzwerke lassen sich aber Lücken schließen. „Wir wollen beispielsweise schauen, wer mit wem brieflich in Kontakt stand. Mitunter aber kein leichtes Unterfangen“, erläutert Grace Evans, Mitarbeiterin von Marília Jöhnk im Projekt „Lost in Archives“, die zum Thema „Unsichtbare Literaturkritikerinnen im deutschen und englischen Sprachraum“ promoviert. „Es gibt bei den von uns zu untersuchenden Frauen meist keine Nachlässe. Die Briefe sind daher oft sehr verstreut und manchmal nur über die Nachlässe ihrer Männer oder Familienarchive auffindbar.“ Eine große Hilfe bei der Arbeit ist Kalliope, ein onlinebasierter Verbundkatalog, der eine digitale Recherche in Nachlässen und Archiven ermöglicht. „Dennoch führt dies oftmals nicht am Weg ins ‚reale‘ Archiv vorbei“, betont Marilia Jöhnk. Nicht alles sei erfasst und katalogisiert, manchmal konkretisiere sich erst im Archiv der spezifische Suchpfad.
Outreach
Geplant ist im Rahmen von „Lost in Archives“ neben einer Wanderausstellung, die zuerst im Schopenhauer-Studio der Universitätsbibliothek November 2026 zu sehen sein soll, ein Podcast zum Thema sowie eine eher ungewöhnliche Publikationsform: eine Graphic Novel. „Eine sicherlich noch recht junge Form, zumindest für den Bereich Wissenschaft, wobei es in den Geschichtswissenschaften bereits einiges dazu gibt“, erklärt Marília Jöhnk. Auch die Literaturwissenschaften beschäftigen sich nach ihrer Beobachtung in letzter Zeit verstärkt mit der populären und visuellen Erzählform. Über die Barocklyrikerin Sibylla Schwarz hat der Zeichner Max Baitinger bereits eine lesenswerte Graphic Novel vorgelegt. „Natürlich kann man dieses spannende Medium ganz unterschiedlich nutzen: Man kann die Geschichten der Protagonistinnen erzählen, aber ebenso auch Mechanismen der Unsichtbarkeit aufzeigen.“ Interessant, so Jöhnk, ist diese populäre Form auch mit Blick auf die schulische Vermittlung, denn unter den Studierenden der Geschichts- und Literaturwissenschaften sind auch viele angehende Lehrkräfte. Dann fänden die der Unsichtbarkeit entrissenen Frauen vielleicht doch noch Zugang zum schulischen Kanon.