„Je digitaler es wird, desto stärker finden Ausschlüsse statt“

Online-Banking und Bezahlen mit Karte oder Smartphone verbreiten sich immer weiter. Das ist für viele komfortabel, hat aber auch eine Schattenseite, wie die Forschung der Wirtschaftssoziologin Barbara Brandl zeigt: Für die Gesellschaft und für Einzelne birgt der Trend zum digitalen Bezahlen Gefahren.

Barbara Brandl. © privat

UniReport: Frau Prof. Brandl, Sie forschen zu finanzieller Teilhabe, was versteht man darunter und warum ist sie relevant?

Barbara Brandl: Finanzielle Teilhabe bedeutet, dass ich bezahlen kann, Zugang zu Konten habe und dass ich sparen und Kredite aufnehmen kann. Wenn man davon ausgeht, dass durch Finanzmärkte oder einfach Zahlungsinfrastrukturen Chancen in modernen Gesellschaften verteilt werden, dann ist es ein sehr wichtiger Punkt, ob Leute Zugang haben oder nicht. Auf Bezahlen sind wir in modernen Gesellschaften angewiesen.

Wie entscheidend ist finanzielle Teilhabe im Vergleich damit, wie viel Geld jemand zur Verfügung hat?

Einkommen und Bildung, die stark mit Einkommen zusammenhängt, sind natürlich immer noch die sehr viel wichtigeren Variablen, wenn es um die Verteilung von Chancen geht. Wir beobachten aber, dass der unterschiedliche Zugang zu Finanzdienstleistungen Ungleichheiten, die bereits bestehen, nochmal verstärkt. Und unsere Zahlen zeigen, dass Kredite, aber vor allem auch digitale Finanzprodukte, sehr viel häufiger von Leuten in oberen Schichten genutzt werden als von unteren.

Gilt das für alle digitalen Finanzdienstleistungen?

Der Unterschied ist nur unter denjenigen gering, die EC-Karten, Debitkarten oder beides benutzen. Bei allen anderen digitalen Finanzdienstleistungen sehen wir eine starke Differenz zwischen hohem und niedrigem Einkommen. Besonders krass ist es bei Kreditkarten. Hier zeigt sich ein Unterschied in der Verbreitung von 24 Prozent zwischen der niedrigsten und der höchsten Einkommensgruppe. Wenn man bedenkt, dass Kreditkarten häufig eine Voraussetzung sind, überhaupt bestimmte Leistungen bezahlen zu können – Mietautos, Flüge –, hat das deutliche Auswirkungen. Wo wir auch einen starken Unterschied sehen, ist bei Apple Pay, Google Pay und PayPal. Je digitaler es wird, desto stärker finden Ausschlüsse statt.

Wie erklären sich diese Unterschiede zwischen Einkommensgruppen?

Das liegt vermutlich an Milieu-Effekten. Wir wissen das aus anderen Studien: Wenn man sich anschaut, wer sorgt wie vor und wer hat wie viel Wissen über Finanzprodukte, dann sehen wir einen ganz starken Unterschied, der sich durch Erfahrungen erklärt, die Menschen in ihrem Umfeld machen.

Neben diesen typischen Ungleichheitsmustern sprechen Sie und Ihre Ko-Autorinnen in einer gerade erschienenen Studie zu finanzieller Teilhabe von weiteren, zum Teil neuen, Ungleichheitsmustern. Welche sind das?

Die zweite große Variable neben Einkommen, die die unterschiedliche Verbreitung digitaler Finanzdienstleistungen erklärt, ist das Alter. Immer öfter brauche ich zum Beispiel ein Smartphone für Online-Banking. Möglicherweise ist auch gar nicht das Alter an sich die erklärende Variable, sondern Technologieaffinität. Und die ist bei jungen Menschen tendenziell stärker ausgeprägt. Außerdem werden digitale Finanzdienstleistungen tendenziell von Männern häufiger in Anspruch genommen, was unter anderem daran liegt, dass Frauen im Schnitt weniger Geld zur Verfügung haben und sich weniger für Finanzthemen interessieren – aber der Effekt ist nicht so groß wie bei Alter und Einkommen. Eine interessante Ausnahme ist „Buy now, pay later“: Das wird häufiger von Frauen genutzt, auch in unserer Studie.

Woran könnte das liegen?

Frauen nehmen seltener Kredite auf, im Schlechten wie auch im Guten, wenn es zur Vermögensmehrung führen könnte. „Buy now, pay later“ ist ein zinsloses Darlehen, sofern man tatsächlich nach den 30 Tagen bezahlt. Es gilt als fairere Alternative im Vergleich zu Kreditkartenschulden, die ein schlechtes Image haben.

Das schlägt bei Frauen stärker durch?

Die Hürde ist bei „Buy now, pay later“ viel geringer, gerade für Frauen, die vor Krediten stärker zurückschrecken. Wahrscheinlich liegt es auch daran, dass Frauen häufiger Waren kaufen, für die „Buy now, pay later“ angeboten wird, zum Beispiel Haushaltswaren und Kleidung für die Kinder. Eine andere Vermutung ist, dass es vor allem um Ausgaben geht, die mit Werbung auf Social Media zusammenhängen. Darauf scheinen Frauen stärker anzusprechen.

Worin liegen die Nachteile für diejenigen, die digitale Finanzdienstleistungen nicht nutzen?

Zunächst ist der Zugang zu Bargeld in den letzten zehn Jahren in Deutschland sehr stark eingeschränkt worden, insbesondere durch den Abbau von Bankfilialen und Bankautomaten, vor allem in ländlichen Gebieten. Wir sehen das deutlich im Vergleich zu Frankreich. Dort wurde im selben Zeitraum fast nichts abgebaut. Und für bestimmte Schichten und viele ältere Menschen hat Bargeld eine andere Bedeutung als etwa für viele Jüngere mit höherem Einkommen. Es wird also viel aufwendiger, überhaupt an Bargeld zu kommen und noch dazu wird es nicht mehr überall angenommen. Zudem haben sich analoge Angebote von Banken verteuert, wenn ich zum Beispiel Online-Banking nicht nutzen möchte, sondern nach wie vor Dienstleistungen in der Filiale.

Sie ziehen in Ihrer Studie eine starke Verbindung zwischen digitalem Bezahlen und Konsumkrediten. Wie lässt die sich beschreiben?

Die Banken wurden überhaupt erst stark in der Vergabe von Konsumkrediten durch die Digitalisierung. Gleichzeitig mit digitalem Bezahlen entstand eine neue Form von Konsumkrediten, die direkt mit der Zahlung verbunden sind. Kreditkarten waren eine neue Form der digitalen Zahlung, schufen aber auch eine neue, unkomplizierte Form eines Konsumkredits. An den meisten Giro- und Debitkarten hängt automatisch die Möglichkeit eines Dispokredits dran, also die Überziehung des Kontos. Man muss meistens aktiv auf die Bank zugehen, um das zu ändern. Das setzt sich fort bis zu „Buy now, pay later“ von Klarna und PayPal. Deswegen sagen wir, das muss man zusammendenken.

Welche Folgen hat das?

Viele wissen gar nicht, ob sie gerade nur bezahlen oder auch einen Kredit aufnehmen. Es ist so eng miteinander verbunden. In Verhaltensstudien zeigt sich schon lange: Je mehr digital bezahlt wird, desto mehr Konsumkredite werden aufgenommen. Das ist ein Hauptgrund, warum digitales Bezahlen ein so profitables Geschäftsmodell ist für Banken, Kreditkartenfirmen und andere Zahlungsdienstleister. Die Verhaltensökonomik hat gezeigt, dass Menschen vielfach irrational mit Geld umgehen. Ein berühmtes Beispiel dafür ist, das eigene Konto zu überziehen, verbunden mit hohen Dispozinsen, obwohl ich eigentlich genug Geld auf einem anderen Konto liegen habe, das ich aber zum Sparen nutze.

Übernehmen sich viele damit?

Für spezifische Gruppen ist das sehr problematisch. Insbesondere jüngere Leute geraten durch Konsumkredite stark in ein Überschuldungsrisiko, gerade durch „Buy now, pay later“. Generell lässt sich sagen, dass Konsumkredite sehr stark zu sozialen Ungleichheitsdynamiken beitragen, wobei wir Konsumkredite nicht als Einheit sehen dürfen, wie die Forschung von Jenny Preunkert zeigt. Nicht nur in den unteren Schichten, auch in den Mittelschichten werden ganz stark Konsumkredite aufgenommen, am meisten für Wertgegenstände wie Autos. Untere Schichten nehmen sehr viel häufiger Konsumkredite für den Bedarf des täglichen Lebens auf, etwa für Lebensmittel und Arztrechnungen.

Solche Alltagskredite bezeichnen Sie und Ihre Ko-Autorinnen in der Studie als Indikator für die Prekarisierung des täglichen Lebens. Sie betonen aber, dass Konsumkredite auch soziale Ungleichheit reduzieren können. Was wäre ein Beispiel dafür?

Wenn Konsumkredite dabei helfen, einen finanziellen Engpass zu überwinden – zum Beispiel, wenn ich einen neuen Job anfange, aber noch kein Geld für einen neuen Anzug für die Arbeit habe oder kein Geld für ein Auto, mit dem ich den Arbeitsort erreichen kann. Klassischerweise hat die Forschung nur den Immobilienkrediten der höheren Schichten eine Vermehrung des Vermögens zugeschrieben, aber auch Wertgegenstände, die ich mit einem Konsumkredit kaufe, können auf längere Sicht mein Vermögen erhöhen.

Wie können wir der Ungleichheit in der finanziellen Teilhabe entgegenwirken?

Wir brauchen eine Entsprechung zum Bargeld in der digitalen Welt. Deswegen bin ich sehr für den digitalen Euro. Wir brauchen eine Form von digitalem Bezahlen, das auf einer öffentlichen Infrastruktur vollzogen werden kann. Daneben ist es sehr wichtig, dass wir das Bargeld erhalten, weil keine Form der digitalen Bezahlung je so wenig Daten produzieren wird wie eine Bezahlung mit Bargeld – und kein Zahlungssystem wird je so einfach sein. Daher müssen wir auch die zugehörige Infrastruktur, das Filialnetz und die Bankautomaten, erhalten.

Es ist also keine typisch deutsche Befindlichkeit, den Rückgang von Barzahlungen zu bedauern?

Dieser Diskurs in Deutschland, „wir wollen unser Bargeld behalten“, reagiert wahrscheinlich stark darauf, dass die Filialstruktur in den letzten zehn Jahren so massiv ausgedünnt wurde. Wir müssen uns vor Augen halten, dass Bargeld eine öffentliche Infrastruktur ist, die jeder nutzen kann. Digitale Zahlungen laufen bisher ausschließlich über private Anbieter und die müssen damit Geld verdienen.

Der digitale Euro wurde zuletzt vom dafür zuständigen Berichterstatter des EU-Parlaments infrage gestellt, mit Rücksicht auf die Privatwirtschaft. Was spricht noch dafür?

Es geht auch darum, dem Oligopol von Visa und Mastercard eine europäische und im besten Fall öffentlich finanzierte Alternative entgegenzustellen. Fast alle grenzüberschreitenden Zahlungen laufen über diese beiden Firmen, mit steigender Tendenz, aber zunehmend auch nationale digitale Zahlungen. Das hat auch eine geopolitische Dimension. Trump konnte einem Richter in Brasilien einfach die Kreditkarte sperren lassen. Und das Zahlungsnetzwerk der Banken, SWIFT, soll ja eigentlich ein internationales System sein, ist aber dominiert von amerikanischen Banken. Wir sind im Zahlungsverkehr auf amerikanische Unternehmen angewiesen – und das ist ein weiterer wichtiger Grund für den digitalen Euro.

Fragen: Jannik Waidner

Barbara Brandl ist Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Organisation und Wirtschaft am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Uni. Sie forscht zur Soziologie des Kredits, digitalen Finanzdienstleistungen, finanzieller Inklusion sowie zu Bargeld und zum digitalen Euro. Außerdem hat sie zu Mobile Money, dem globalen Süden, grüner Biotechnologie und im Feld der Politischen Ökonomie publiziert.

Zum Weiterlesen: Barbara Brandl, Zsófia S. Ignácz, Alexandra Keiner und Jenny Preunkert: Von der Kreditkarte zu Buy-Now-Pay-Later: Soziale Ungleichheiten in der Nutzung von digitalen Bezahldiensten und Konsumkrediten. Weizenbaum Discussion Paper #49, Oktober 2025.

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