Neue Kunst am Bau im Herzen des SKW-Gebäudes

Das Raqs Media Collective installiert mit »All, Humans« eine epistemische Videoskulptur.

Schriftzeichen der Sprache Vai als Glasskulpturen.

Der Neubau für den Fachbereich 09 »Sprach- und Kulturwissenschaften« auf dem Campus Westend bekommt den letzten Schliff. Das international renommierte Künstler:innenkollektiv Raqs Media Collective, das sich 1992 in Neu Delhi gegründet hat, gewann mit seinem Entwurf den vom Land Hessen ausgelobten Wettbewerb für »Kunst am Bau«. Die dreiteilige Arbeit »All, Humans« wird am 2. November 2023 abends im Foyer des SKW-Gebäudes feierlich eingeweiht. Studierende des Masterstudiengangs »Curatorial Studies« haben die Entstehung in den letzten Monaten intensiv verfolgt und bieten im Dialog mit den Künstler*innen und Expert*innen Einblicke und Auseinander­setzungen in die filmische Installation.

Provokativ zeigen die Künstler*innen Jeebesh Bagchi, Monica Narula und Shuddhabrata Sengupta vom Raqs Media Collective mit ihrer dreiteiligen LED-Video-Skulptur „All, Humans“ im SKW-Gebäude die Grenzen der Universität auf. Bei längerem Betrachten der Objekte kommt man möglicherweise ins Stocken. Denn die Schriftzeichen der künstlerischen Arbeit sind auf den ersten Blick den meisten Vorbeigehenden unverständlich. Sie zeigen die westafrikanische Mande-Sprache Vai, die selbst an den Instituten für Sprachwissenschaften nicht unbedingt jedem bekannt ist. Diese Barriere und andere Elemente der Installation verweisen auf historische, soziale und sprachliche Momente der Ein- und Ausgrenzung von Menschen und Wissen im universitären Kontext. Wer und was darf eigentlich Platz in der Struktur der Universität einnehmen?

»rarely asked questions«

Die dreiteilige Installationsgruppe, bestehend aus mehreren ineinandergreifenden Videos auf LED-Modulen, ist an drei zentralen Stellen im Gebäude platziert. Im Eingangsbereich, nahe den Schließfächern, werden die Vorbeigehenden eingeladen, innezuhalten, nach oben zu schauen und den universitären Raum neu zu erfahren. Die Installation in der Bibliothek ist wie eine Projektionsfläche in die Höhe gerichtet. Ihre Betrachtung regt dazu an, die eigene Perspektive zu erweitern. Im Foyer unweit des Hörsaals soll unter einer Art Baldachin, die den materiellen Teil der Video-Skulptur überdacht, ein neuer Raum des Zusammenkommens, des Austauschs und Verweilens entstehen. Die quadratischen LED-Module, die an architektonischen Elementen des Gebäudes montiert sind, ergeben in ihrer Gesamtheit Schriftzeichen, die zur Mande-Sprache Vai gehören. Videos, die auf den Modulen zu sehen sind, zeigen Gouachezeichnungen und Glasskulpturen, die in Vai-Schriftzeichen die Wörter „alle Menschen“, „gleich“ und „Geist“ darstellen. Auf den weiteren LED-Paneelen läuft vor dunklem Hintergrund, ebenfalls in Vai, der erste Artikel der Menschenrechtskonvention ab: „‚Alle Menschen‘ sind frei und ‚gleich‘ an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im ‚Geist‘ der Brüderlichkeit begegnen.“ Über den Gerüsten ist jeweils ein geformtes LED-Mesh stoffähnlich drapiert, das einen Baldachin darstellen soll. Geometrische und florale Formen, die sich ständig verändern und neu formieren, fließen leuchtend über die Oberfläche.

Der Arbeitsprozess von Raqs Media ­Collective ist durch einen sensiblen Umgang mit ortsspezifischen Kontexten und Situationen gekennzeichnet. Die Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Raum bleibt dabei ein beständiger Fokus und Ausgangspunkt für ihre Praxis. Sie kehren immer wieder zu der Frage zurück, wie der öffentliche Raum genutzt und neu gestaltet werden kann. „Raqs“ ist übrigens eine Anspielung auf den Ausdruck „frequently asked questions“, der im digitalen Raum unter der Abkürzung „FAQ“ häufig verwendet wird, und bildet dessen Gegenstück: „rarely asked questions“. Bereits in vergangenen Projekten hat das Kollektiv normative Strukturen der globalen Wissensproduktion in einem dekolonialen Kontext infrage gestellt und sich damit ­befasst, wie stark Institutionen wie Museen und Universitäten nach westlichen Maß­stäben arbeiten. Wissens- und Verständnisformen nicht westlicher Subjekte finden bis heute wenig Eingang in den strukturellen Alltag dieser Orte der Wissensproduktion.

Aufbrechen von Machtverhältnissen

Das Raqs Media Collective arbeitet interdisziplinär und mit unterschiedlichsten Medien. Dabei beschränkt sich ihr Schaffen nicht alleine auf die künstlerische Praxis. Zum Beispiel kuratierten sie die Ausstellung „Hungry for Time – Einladung zum epistemischen Ungehorsam“ (9.10.2021 bis 27.2.2022) in der Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste in Wien. Aus einer externen Perspektive setzte sich das Kollektiv kritisch mit der Institution auseinander. Hierbei suchten sie Möglichkeiten, den eurozentrischen und primär männlichen Kanon der berühmten Sammlung aufzubrechen. Die Idee war es, die historische Kunstsammlung der Akademie unter Berücksichtigung des aktuellen Dekolonialismus-Diskurses in der Kunst und den Kulturwissenschaften umzustrukturieren. Die Hinzunahme des Kollektivs von den Werken vieler nicht westlicher Künstler*innen verweist auf die künstlerischen Positionen, die bis dahin nicht in der Akademie berücksichtigt wurden. Darüber hinaus hat das Raqs Media Collective die westlich geprägte Struktur des musealen Orts reflektiert: Die Ausstellung widersetzte sich der gewohnten Chronologie, bei der eine Epoche auf die andere folgt und zwischen „Meistern“ und „Schülern“ sortiert. Stattdessen haben sie durch Szenen wie in einem Theaterstück in ihrer Präsentation Momente geschaffen, in denen das Publikum innehalten und über die Machtverhältnisse in der weltweiten Produktion von Wissen nachdenken konnte. Wie an der Akademie der bildenden Künste Wien hinterfragt das Kollektiv nun auch gewohnte Wissensstrukturen der westlichen Hemisphäre mit der Video-Skulptur „All, Humans“ im SKW-­Gebäude.

Eine kuratorische Praxis kennenzulernen, die feste Strukturen aufbricht und zur kritischen Befragung animiert, ist für die Studierenden des Masterstudiengangs „Curatorial Studies – Theorie – Geschichte – Kritik“ besonders erhellend. Zur Eröffnung werden die Studierenden mit dem Kollektiv ein öffentliches Gespräch führen. Um darüber hinaus den Dialog mit den Besuchenden und den Nutzenden des Gebäudes zu fördern, haben die Studierenden ein Booklet sowie ein Vermittlungsprogramm zur künstlerischen Arbeit „All, Humans“ für das Wintersemester 2023/24 entwickelt. Einmal im Monat finden Führungen mit Expert*innen verschiedener Fachbereiche statt. Zusätzlich werden zwei Führungen von den Studierenden in einfacher Sprache und Gebärdensprache angeboten. Darüber hinaus laden sie zu regelmäßigen Zusammentreffen, sogenannten Gatherings, unter den Baldachinen ein, um dort einen Diskurs auf Augenhöhe zu führen. Dabei geht es den 15 Studierenden darum, nicht nur Medium und Inhalte der dreiteiligen Arbeit zu vermitteln, sondern die Arbeit durch neue Begegnungsorte und kritische Diskussionen auf dem Campus zu aktivieren.

Das Vermittlungsprojekt ist das Jahrgangsprojekt der Studierenden, die 2022 ihren Master begonnen haben. Ein eigenes Projekt gemeinsam als Gruppe zu erarbeiten und umzusetzen ist Teil des Lehrplans. In der Vergangenheit kuratierten die Jahrgänge etwa Ausstellungen in Zusammenarbeit mit den Kooperationsmuseen des Studiengangs oder im Frankfurter Projektraum fffriedrich. Dieser in der Innenstadt gelegene Ausstellungsraum, unweit des Römers, ermöglicht es den Teilnehmenden des Studiengangs, sich in der kuratorischen Praxis zu erproben. Die Begeisterung der „Kunst am Bau“-Kommission für den Entwurf vom Raqs Media Collective für das universitäre Neubauprojekt ist kaum verwunderlich. Mit der Arbeit wird nicht nur eine Möglichkeit zur Identifikation der Institute und ihrem neuen Gebäude geschaffen, sondern sie reflektiert auch den Wissenschaftsbetrieb und dessen gesellschaftliche und historische Verantwortung. Statt Forschung hinter verschlossenen Türen zu betreiben, ruft es zur Inklusion von Wissen weit über die eurozentrische Perspektive hinaus auf.

Dalwin Kryeziu und Carolin Tüngler, Studierende der Curatorial Studies

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