Vom 16. bis zum 20. September findet in Frankfurt der 44. Rechtshistorikertag statt. Der Rechtshistoriker Guido Pfeifer – einer der Veranstalter am Institut für Rechtsgeschichte – gibt Auskunft über das Tagungsthema, aktuelle Fragen seiner Zunft und warum sein Fach Grundlagenforschung ist.
Seit knapp hundert Jahren kommen deutsche Rechtshistoriker regelmäßig zusammen, seit längerem alle zwei Jahre. Nicht jeder Rechtshistorikertag hatte bislang ein Thema, dieses Jahr aber gibt es eines: „Die Sprache der Quellen“.
Prof. Dr. Guido Pfeifer: Ja, oft gab es kein Generalthema, weil der Rechtshistorikertag ja gewissermaßen das Klassentreffen der Zunft ist. Da kann dann alles zur Sprache kommen. Aber manchmal wurde doch ein übergreifendes Thema gesetzt – zum Beispiel vor vier Jahren in Trier „Zentren und Peripherien in der Geschichte des Rechts“, was natürlich bei Trier, das in römischer Zeit als Kaiserresidenz ein Zentrum war, nahelag. Uns war es aber diesmal wichtig, den Gegenstand rechtshistorischer Betrachtung in den Mittelpunkt zu stellen, um zu sehen, inwiefern aktuelle Entwicklungen den Blick auf unser Material verändern. Wir wollten also den historischen Blick mit der Gegenwart verknüpfen – auch wenn das Themenspektrum natürlich weit gespannt sein soll.
Was das Programm auch spiegelt: Es reicht vom Seerecht über das Kirchenrecht im Mittelalter und Quellen der Globalrechtsgeschichte bis hin zu Gewalt und Recht in Umsturzlagen. Viele der Themen schließen Sie aber kurz mit aktuellen Entwicklungen wie den „Digital Humanities“. Wie verändert sich Ihr Fach durch Digitalisierung und KI?
Wir haben das Thema, wie sich unser Fach durch die neue Informationstechnik verändert, bewusst offen formuliert, weil wir diesen Wandel ja gerade unmittelbar erleben. Wir wissen einfach noch nicht, wie sich diese Veränderungen gestalten. Die Digitalisierung führt zum Beispiel dazu, dass wir Quellen besser erfassen können, dass uns der Zugriff auf sie erleichtert wird und dass wir mehr als früher auch statistisch arbeiten können, weil wir größere Datenmengen erfassen können. In Bezug auf KI stellt sich natürlich die Frage: Welchen Quellen kann ich eigentlich trauen, was ist authentisch und was ist aufbereitet? Wir fragen uns aber auch: Wo kann mir künstliche Intelligenz helfen – zum Beispiel kann KI bei Texten, die nur fragmentarisch überliefert sind, intelligent ergänzen. Aber das erfordert freilich immer auch ein kritisches Hinterfragen.
Die abschließende Podiumsdiskussion widmen Sie dem Thema „Medienwandel und Publikationskultur in der Rechtsgeschichte“. Sie erwarten also nicht nur Änderungen in der Forschungsarbeit …
Ja, Digitalisierung und KI sind natürlich Aspekte, die auch in der literarischen Produktion eine Rolle spielen können. Ist es zum Beispiel legitim, sich beim Schreiben von Texten einer künstlichen Intelligenz zu bedienen? Und wo es bereits jetzt ganz manifest ist: Übersetzen wir Vorträge in Sprachen, die wir nicht so gut beherrschen? Das ist auch eine Frage des wissenschaftlichen Ethos. Es ist schon sinnvoll, sich mit anderen darüber zu verständigen. Wir müssen ja nicht zwingend darüber einen Konsens herstellen …
Im Begriff der Rechtsgeschichte werden zwei Disziplinen genannt. In den Vorträgen deuten sich aber noch weitere Disziplinen an. Ist es ein Charakteristikum der Rechtsgeschichte, dass in ihr viele Disziplinen zusammenarbeiten?
Ja, die Rechtsgeschichte ist genuin interdisziplinär. Sie wird vor allem von Juristen betrieben, aber auch von Historikern, Philologen und Soziologen. Und mit jeder dieser Disziplinen sollte es einen fruchtbaren Austausch geben. In unserer Tagung haben wir versucht, dies abzubilden. Das fängt schon mit dem prominenten Eröffnungsvortrag des Historikers Hartmut Leppin an.
Im Programm scheint 1945 der jüngste historische Zeitpunkt sein, auf den sich ein Vortrag bezieht. Wo hört historisch betrachtet das Objekt der Rechtsgeschichte auf? Gibt es einen rechtshistorischen Blick auf das aktuelle Rechtsgeschehen?
Wie immer bei der historischen Betrachtung ist „gestern“ natürlich auch schon Geschichte. Denken wir etwa an den NSU-Prozess – es wird nicht lange dauern, dass dieses Verfahren Gegenstand rechtshistorischer Betrachtungen wird. Aber man muss auch fragen: Wann ist es sinnvoll, ein Geschehen rechtshistorisch zu betrachten? Der letzte Rechtshistorikertag in Frankfurt war 1986: Da gab es den Eisernen Vorhang noch, und seitdem ist mit der Rechtsgeschichte der DDR ein neues Gebiet erwachsen, das auch intensiv bearbeitet wird…
… und in den Folgejahren auf den Rechtshistorikertagen ja auch umfangreich Thema war.
Ja, durchaus. Aber wenn Zeitgeschichte durch Zeitgenossen betrieben wird, die selbst noch an der Geschichte beteiligt sind, stellt sich auch eine gewisse Befangenheit ein. Das ist weniger der Fall, wenn man sich mit einem Forschungsgegenstand vor 4000 Jahren beschäftigt. Dafür stellt sich hier ein anderes Problem: Dass wir möglicherweise Sichtweisen aus der Moderne einbringen, die in der Vergangenheit nichts verloren haben. Es gibt die schöne Formulierung der früheren Direktorin des Frankfurter Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Marie Theres Fögen: „Die Antike kennt uns nicht.“ Wir dürfen von ihr also keine Antworten für unsere Gegenwart erwarten. Aber was wir können, ist an der Geschichte lernen. Und da ist es manchmal so: Je größer die Distanz ist, je fremder das ist, was uns in den Quellen begegnet, desto mehr schärfen wir beim Versuch, es zu verstehen, unser intellektuelles Instrumentarium, Probleme der Gegenwart zu lösen. Das macht Rechtsgeschichte dann zur Grundlagenforschung.
Einer der Doyens der Rechtsgeschichte, Michael Stolleis, hat in einem kurzen Text zur Rechtsgeschichte einmal klar formuliert, dass sich sein Fach im Nationalsozialismus von völkischem Denken hat komplett vereinnahmen lassen. Und er hat ebenso klar formuliert, dass es nach dem Krieg kein Interesse gab, das zu reflektieren. Würden Sie sagen, dass Ihr Fach inzwischen ein anderes Selbstverständnis hat?
Auf jeden Fall. Die Generation von Michael Stolleis und Bernhard Diestelkamp hat einen grundsätzlichen Perspektivenwechsel vollzogen. Seit `68 ist dazu sehr viel und sehr intensiv geforscht worden. Die Art der Forschung ändert sich aber auch mit den Protagonisten. Inzwischen ist eine Generation da, die die Quellen mit einer anderen Unbefangenheit befragt. Der Zugang ist weniger ideologisch. Damals war die Debatte – auch – politisch aufgeladen. Das sieht man zum Beispiel auch bei der DDR-Geschichte. Auch da sind die Verbindungen zu ideologischen Grundannahmen noch spürbar. Das wird sich erst im Laufe der Zeit verlieren.
Nach dem Krieg ist die Rechtsgeschichte, wohl auch durch ihre bereitwillige Kooperation in der Nazizeit, in eine Legitimationskrise geraten. In Frankfurt ist das Fach allerdings besonders stark. Hier ist Krise kein Thema. Warum?
Das sollten eigentlich lieber andere beurteilen (lacht) … Als ich als junger Rechtshistoriker nach Frankfurt kam, habe ich mich das natürlich auch gefragt. Das mag mit der besonderen Kritikfähigkeit in Frankfurt zu tun haben. Und auch mit dem Umfeld am juristischen Fachbereich, der insgesamt sehr grundlagenorientiert ist. Zum Beispiel gibt es eine eigene kritische Schule im Strafrecht, im öffentlichen Recht ist es ähnlich. Dann hat die Rechtstheorie und Rechtsphilosophie eine eigene Prägung, was sich auch niedergeschlagen hat in Beteiligungen am Exzellenzcluster „Normative Ordnungen“. Ich würde mal vorsichtig vermuten, dass es damit zu tun hat. Die Anfälligkeit, sich instrumentalisieren zu lassen, ist doch relativ gering. Aber natürlich muss sich das immer wieder neu beweisen.
Und es stimmt: Wir haben als Rechtshistoriker in Frankfurt gleich mehrere Besonderheiten. Wir profitieren von der Nähe zum Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie, das es seit den 60er Jahren gibt; das andere ist, dass die Frankfurter Rechtsgeschichte auch aufgrund der personellen Stärke mit vier bzw. fünf Professuren nicht mehr der klassischen Zweiteilung „Römisches Recht“ einerseits und „Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte“ andererseits folgt. In Frankfurt ist man dazu übergegangen, das historische Epochenmodell abzubilden: antike Rechtsgeschichte, mittelalterliche Rechtsgeschichte, Rechtsgeschichte der frühen Neuzeit und neuere und neueste Rechtsgeschichte plus vergleichende Rechtsgeschichte. Dazu kommt, dass einer der Direktoren des Max-Planck-Instituts am Fachbereich kooptiert, ein weiterer Honorarprofessor am Fachbereich ist.
Im Vorwort zur Tagung betonen Sie das besondere Anliegen, die jüngere Generation in den wissenschaftlichen Austausch einzubinden. Die hat ja inzwischen ihr eigenes Forum: das Europäische Forum junger Rechtshistorikerinnen und Rechtshistoriker.
Seit es dieses Forum gibt, für das ich übrigens auch einmal eine Tagung organisieren durfte, seit etwa 30 Jahren also, hat der Rechtshistorikertag versucht, die jüngere Generation stärker miteinzubeziehen. Wobei ich beobachte, dass jede Generation ihr eigenes Forum findet. Das „Europäische Forum junger Rechtshistorikerinnen und Rechtshistoriker“ zum Beispiel ist heute gewissermaßen schon überholt; ganz neu gibt es jetzt das „Junge Netzwerk Rechtsgeschichte“ und die „Junge(n) Romanisten“. Der Rechtshistorikertag hat aber natürlich das Anliegen, die verschiedenen Generationen der Rechtshistoriker miteinander ins Gespräch zu bringen. Und das fängt schon mit interessierten Studierenden an, die ebenfalls einen Zugang haben sollen. Wir haben deshalb extra Projektpräsentationen junger Rechtshistorikerinnen und Rechtshistoriker auf den prominenten Vormittag unseres Tagungsprogramms gelegt.
Wissen sie schon, wie viele Kolleginnen und Kollegen an der Tagung teilnehmen werden?
Wir rechnen mit 250 bis 300 Anmeldungen.
Sie haben selbst gesagt, der Rechtshistorikertag ist wie ein Klassentreffen über die Generationen hinweg. Worauf freuen Sie sich am meisten?
Ich freue mich einmal auf die Vorträge und die Diskussionen und wie sie auf „unseren“ Rechtshistorikertag und sein Thema reagieren. Und dann freue ich mich natürlich auf die persönlichen Begegnungen mit den Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich nicht ständig im Austausch bin.
Dann wünsche Ihnen einen konstruktiven Austausch, vielen Dank für das Gespräch!
Weitere Informationen
Prof. Dr. Albrecht Cordes
Prof. Dr. Thomas Duve
Prof. Dr. David von Mayenburg
Prof. Dr. Guido Pfeifer
Institut für Rechtsgeschichte
Goethe-Universität Frankfurt
https://rechtshistorikertag2024.de/aktuelles
Anmeldungen werden im Tagungsbüro auch noch während der Veranstaltung angenommen: https://rechtshistorikertag2024.de/anmeldung
Das Programm ist einsehbar unter https://rechtshistorikertag2024.de/ sowie unter https://preview.mailerlite.io/emails/webview/631803/132166340165240339.
Die Fragen stellte Pia Barth