Erziehung nach Auschwitz – revisited

Neuer Band der Reihe Frankfurter Beiträge zur Erziehungswissenschaft nimmt Adornos berühmten Radioessay als Ausgangs- und Bezugspunkt für vielfältige Interpretationen und Gegenwartsanalysen.

Theodor W. Adornos 1966 erstmals veröffentlichter Radioessay „Erziehung nach Auschwitz“ hat ganz maßgeblich in den letzten 50 Jahren Positionen und Diskussionen in der Erziehungswissenschaft und auch in benachbarten Disziplinen geprägt. Professorin Christiane Thompson, Erziehungswissenschaftlerin an der Goethe-Universität und Mitherausgeberin des neuen Bandes, betont: „Unser heutiger Begriff von Bildung ist elementar mit dem Essay verknüpft, mit Mündigkeit, Reflexivität und Autonomie. In Adornos Essay findet sich auch der spannende Gedanke, dass über Nicht-Mitmachen Widerstand und Gegenwehr hervorgebracht werden können.“ Der Band „Erziehung nach Auschwitz bis heute“ knüpft an ein vom Fachbereich 04 durchgeführtes Symposium an der Goethe-Universität an, das 2016 stattfand. „Wir haben auf der Veranstaltung festgestellt, dass es ein Missverhältnis gibt: Es wird zwar viel über Adornos berühmten Vortrag gesprochen, aber sehr oft beschränkt sich das auf den ersten Satz, auf den Imperativ ‚Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.‘“ Aus dieser Beobachtung entstand die Idee für einen Band unter Einbeziehung der verschiedenen Forschungsbereiche und Praxisfelder der Frankfurter Erziehungswissenschaft. Gefragt wird u. a. danach, wie viel Raum für eine theoretische Auseinandersetzung mit Adornos wichtigen Gedanken in Zeiten der Modularisierung und Verregelung von Studiengängen noch übrig bleibt. So untersucht ein Beitrag die Verankerung einer „Erziehung nach Auschwitz“ in erziehungswissenschaftlichen Studiengängen deutscher Universitäten. Eine Aktualisierung der Adorno’schen Überlegungen zur Technik nimmt Christiane Thompson in ihrem Beitrag „Über die Angst, verschieden zu sein“ vor. „Bildung und Erziehung waren ursprünglich auf die offene Zukunft einer Person ausgerichtet. Was aber bedeutet es für demokratische Gesellschaften, wenn Algorithmen zum Einsatz kommen, welche die Wahrscheinlichkeit berechnen, ob eine Person straffällig wird, wie es in den USA geschieht?

Erforschung von Diskursen

Sabine Andresen, Dieter Nittel, Christiane Thompson (Hg.) Erziehung nach Auschwitz bis heute. Aufklärungsanspruch und Gesellschaftsanalyse
Frankfurter Beiträge zur
Erziehungswissenschaft, Band 22, Goethe-Universität, FB 04, 2019

Ein gewichtiger zeitaktueller Hintergrund des Bandes bilden unzweifelhaft die rechtspopulistischen und antisemitischen Entwicklungen der letzten Jahre. „Uns ist im Rahmen der Arbeit an dem Band klar geworden, dass der Verfall einer deliberativen Kultur und die zunehmend hassdurchsetzte Sprache in öffentlichen und digitalen Räumen eine wichtige Positionierung unsererseits erfordert“, betont Thompson. So habe Dieter Nittel mit seinen Mitarbeitern den medienöffentlichen Diskurs untersucht und aus dieser wissenschaftlich geleiteten Untersuchung Reflexionsanlässe für die Institutionen rund um das lebenslange Lernen formuliert. Sabine Andresen kommt in ihrem Beitrag „Was Aufarbeitung von Unrecht bedeutet“ auf die rechtsextremistische Geschichtspolitik zu sprechen und benennt die Herausforderung einer Aufarbeitung, die Vergangenheit und Gegenwart in ein Verhältnis setzt. „Wir Herausgeber*innen, Sabine Andresen, Dieter Nittel und ich, waren uns schnell darin einig, dass das Buch unter dem programmatischen Zusammenhang von ‚Aufklärungsanspruch und Gesellschaftsanalyse‘ stehen sollte. Das ist dann der Untertitel geworden.“ Was den Band auszeichne, so Thompson, sei die Aktualisierung, die dadurch mit und auch in Erweiterung gegenüber Adorno gelungen sei. Manfred Gerspach beispielsweise spannt einen Bogen von der „Euthanasie der NS-Zeit zur neuen Behindertenfeindlichkeit“ und zeigt dabei die Verstrickungen der Heil- und Sonderpädagogik in die NS-Euthanasiepolitik und eine Wiederkehr der Abwertung von Menschen mit Behinderungen in der Gegenwart auf.

Theodor W. Adorno
Foto: Universitätsarchiv
Frankfurt

Adorno habe selber die Möglichkeiten der Pädagogik mitunter skeptisch eingeschätzt, so Thompson; ihm sei in Teilen zuzustimmen. Gesellschaftliche Probleme dürften nicht einfach als pädagogische Probleme definiert werden. Bei Bildungsprogrammen gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit werde beispielsweise übersehen, dass das Problem nicht nur die nachkommende Generation betreffe. Und es gebe auch strukturelle Problematiken. „Uns war wichtig zu zeigen, dass Adorno in seinem Vortrag zwar die pädagogische Aufgabe benennt, aber damit noch nichts über die Bildungs- und Erziehungswirklichkeiten gesagt ist. Wir müssen die ‚gesellschaftliche Kälte‘ in der Schule aufsuchen.“ Viele Kinder und Jugendliche würden die Schule als Ort von Verletzung und Missachtung erleben und unter einem hohen Druck der Leistungsbewertung stehen. Wie dadurch Bildungsmöglichkeiten abgeschnitten würden, müsse kritisch analysiert und bewertet werden.

Studentische Partizipation

Christiane Thompson ist dankbar dafür, dass der Band auch einige Beiträge von Studierenden enthält, die sich auf „wissenschaftlich wegweisende Art“ eingebracht hätten. Arwin Mahdavi Naraghi, Johanna Bach, Susanne Thimm, Paola Widmaier und Timo Voßberg beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit Biografien jüdischer Studierender an der Goethe-Universität.„Der Beitrag ist zugleich eine kritische Auseinandersetzung mit der Uni, an der sie selber studieren“, erläutert Thompson. In der Erinnerungsarbeit wird versucht, die eigene Aktivität wissenschaftlich auf den Begriff zu bringen: Was machen wir hier eigentlich? Dabei greifen sie auf ein u.a. vom Frankfurter Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik, der auch einen Beitrag beigesteuert hat, entwickeltes Konzept der „anamnetischen Solidarität“ zurück. Die „solidarische Hinwendung zum Konkreten durch Biografiearbeit“ müsse aber, so die Studierenden in ihrem Beitrag, ergänzt werden durch eine „Analyse allgemeiner, gesamtgesellschaftlicher Strukturen“. Ein weiterer studentischer Beitrag von Jennifer Preiß und Johanna Weckenmann untersucht die Frage, inwiefern Adornos Radioessay Impuls für erziehungswissenschaftliche Reflexionen sein kann. Sie diskutieren verschiedene „Türöffner“ zu Adornos Text: über Primär- und Sekundärlektüren, Exkursionen nach Auschwitz und auch über ein eigenes essayistisches Schreiben. Eine „Pädagogik nach Auschwitz“ sei, so die beiden Beiträgerinnen, angewiesen auf vielseitige Formate und Räume der wissenschaftlichen Auseinandersetzung.

Frankfurter Tradition einer kritischen Erziehungswissenschaft

„Erziehung nach Auschwitz bis heute“ ist als Band 22 der Frankfurter Beiträge zur Erziehungswissenschaft erschienen. Zwar besteht die Reihe schon seit den 1990er Jahren, wurde aber vor einigen Jahren wieder mit
Leben gefüllt. „Wir möchten mit der Reihe an eine Frankfurter Tradition der kritischen Wissenschaft anknüpfen“, betont Prof. Christiane Thompson. Die Reihe solle zeigen, dass sich die Frankfurter Erziehungswissenschaft der hohen gesellschaftlichen Relevanz ihres wissenschaftlichen Gegenstandes bewusst sei. Erziehung und Bildung verwiesen immer auch auf Macht- und Ungleichheitsverhältnisse. Daher sei ein wesentlicher Moment an die Aufklärung dieser Verhältnisse geknüpft. Die Beiträge der Reihe zeigen eine heutige Erziehungswissenschaft, die sich sehr ausdifferenziert hat, mit vielen Teildisziplinen, die bis hin zu Bildungsfragen im hohen Alter reichen. Ein weiterer Gesichtspunkt bei der Konzeption, so Thompson, war es, einen Publikationsort gerade für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu schaffen. Mit ihren kooperativen Bezügen auf die pädagogische Praxis stärkt die Reihe nicht zuletzt den Transfer und die Third Mission an der Universität.

Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 1/2021 (PDF) des UniReport erschienen.

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