Anpassen oder aussterben: Was Klimawandel und Landnutzung für die Artenvielfalt bedeuten

Die heute startende UN-Biodiversitätskonferenz in Montreal sucht nach Wegen, das Artensterben zu stoppen und strebt nach einem Fahrplan zum Schutz der Ökosysteme dieser Welt. Denn Schätzungen zufolge sterben täglich 150 Arten auf der Erde aus; die Aussterberate ist durch den Einfluss des Menschen zehn- bis hundertfach erhöht.

„Wir alle verlieren dadurch wichtige Leistungen von Ökosystemen, die wir zum Überleben brauchen“, sagt Matthias Schleuning, Privatdozent an der Goethe-Universität und Leiter der Gruppe „Funktionelle Ökologie und globaler Wandel“ am Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum.

Über seine Forschung zu den gegenseitigen Abhängigkeiten von Pflanzen und Tieren in komplexen Ökosystemen und über die Gewinner und Verlierer radikaler Veränderungen des Lebensraums berichtete er 2020 in „Forschung Frankfurt“.

Anpassen oder aussterben: Artenvielfalt im Klimawandel

Wie Pflanzen und Tiere aufeinander angewiesen sind

Heute sterben zehn- bis hundertmal mehr Arten aus, als dies ohne die massiven Einflüsse des Menschen auf das System »Erde« der Fall wäre. Der Artenforscher Matthias Schleuning untersucht, wie Pflanzen und Tiere in komplexen Ökosystemen voneinander abhängen. Damit kann er voraussagen, wer zu den Gewinnern und den Verlierern von Klimawandel und stärkerer Landnutzung werden wird.

Wenn Matthias Schleuning von seiner Forschung über die Artenvielfalt erzählt, nimmt er den Zuhörer gerne mit auf seine Reisen und zeigt atemberaubende Fotos exotischer Tiere und Pflanzen. Die tropischen Anden liegen dem Biologen besonders am Herzen, im Manú-Nationalpark in Peru hat er viel Zeit verbracht. Zusammen mit dem Zuhörer betritt Schleuning seine »Berge der Vielfalt« durch die rund 4000 Meter hoch gelegene Puna-Hochsteppe, eine karge und fast baumlose Landschaft. Dann führt der Weg die Berge hinunter, durch die mystischen Elfenwälder mit ihren zwergenhaften, moosüberwucherten Bäumen, durch die nebelverhangenen Bergregenwälder, bis schließlich 3000 Meter weiter unten im tropischen Regenwald des Amazonas-Tieflands breite Flüsse den Rhythmus des Lebens bestimmen. Mehr als 1000 Vogelarten gibt es hier, viermal mehr als in Deutschland, und etwa zehnmal so viele Baumarten wachsen auf einem Hektar Waldfläche.

Biologische Vielfalt hat Matthias Schleuning schon als Teenager fasziniert, sie hat ihn ins Studium der Biologie und schließlich bis nach Südamerika getrieben. In den tropischen Anden will er verstehen, wie Pflanzen und Tiere zusammenleben und aufeinander angewiesen sind: Wie ein Schattenkolibri mit einem langen, gebogenen Schnabel Nektar aus ebenso geformten Heliconia-Blüten trinkt, dabei die Pollen abstreift und zur nächsten Blüte weiterträgt. Wie sich der Blautukan von den Früchten einer Schefflera-Pflanze ernährt und dann – über seinen Kot – deren Samen ausbreitet.

Der Manú-Nationalpark in Peru umfasst einen Höhengradienten von mehr als 3 000 Höhenmetern und ist eines der artenreichsten Gebiete der Erde.

Tier-Pflanzen-Beziehungen: Der Blautukan frisst die Früchte der Schefflera und breitet so ihre Samen aus (oben).

Weibchen der Glockenblumen-Scherenbiene sammeln Glockenblumenpollen und sind damit wichtige Bestäuber dieser Pflanzen.

Wie sich Ökosysteme verändern

Sein Team und er haben im Laufe der Jahre Tausende solcher Wechselbeziehungen verfolgt und Arten-Netzwerke der Andenwälder aufgezeichnet, wo in etwa 90 Prozent der Bäume und Sträucher auf Tiere als Bestäuber oder Samenausbreiter angewiesen sind. Die Höhengradienten der Anden eignen sich für solche Forschungen besonders gut, denn dort gibt es auf engem Raum viele, sehr verschiedene Ökosysteme. Alexander von Humboldt, der 1802 Ecuador bereiste, verglich die Lebensräume eines schneebedeckten Andenbergs mit den Lebensräumen, die sich auf der Erde vom Äquator bis zur Arktis erstrecken.

Doch Matthias Schleuning will nicht nur den Status quo beschreiben. »Wir nutzen unsere Erkenntnisse auch, um Vorhersagen für die Zukunft verbessern zu können«, erläutert er. Denn die Lebensräume wandeln sich, vielerorts in den tropischen Anden wird Wald gerodet und in Äcker, Weiden und Siedlungen umgewandelt. Vogel- und Pflanzenarten müssen in höhere, noch bewaldete Regionen der Berge ausweichen. Ein weiterer Treiber ist der Klimawandel, denn auch die höheren Temperaturen tragen dazu bei, dass Pflanzen und Tiere in kühlere, höher gelegene Bergabschnitte auswandern.

Im historischen Rückblick lässt sich dies bereits belegen: Humboldt fertigte nach seiner Ecuador-Expedition eine Zeichnung der Vegetationszonen des Andenbergs Chimborazo an, in die er auch zahlreiche Pflanzenarten eintrug. Wissenschaftler haben diese historische Zeichnung mit dem Vorkommen derselben Pflanzenarten heute auf dem Chimborazo verglichen: In den vergangenen 200 Jahren haben sich die Vegetationszonen um mindestens 200 Meter nach oben verschoben – was gut zur Erwärmung der Atmosphäre um 1 Grad Celsius seit dieser Zeit passt.

Arten gedeihen im Klima-Optimum

Matthias Schleuning: »Verbreitungsgebiete von Arten sind dynamisch. Generell kann man aktuell den Trend beobachten, dass Arten den von ihnen bevorzugten Klimabedingungen folgen. Die fortschreitende Landnutzung, hauptsächlich durch Landwirtschaft, hat zwar im Moment noch einen stärkeren Effekt auf die Biodiversität als der Klimawandel, doch die beiden negativen Einflüsse werden sich letztlich multiplizieren.«

Wenn nun die Temperatur mit dem fortschreitenden Klimawandel immer schneller steigt – aktuell um etwa 0,2 Grad Celsius pro Jahrzehnt und damit mehr als doppelt so schnell wie in den 100 Jahren zuvor –, müssen auch die Arten sich schneller bewegen, um in ihrem Klimaoptimum bleiben zu können. Was das für die Wechselbeziehungen von fruchtfressenden Vögeln und Pflanzen bedeutet, die auf diese Interaktionen für die Ausbreitung ihrer Samen angewiesen sind, untersuchen Schleuning und sein Team an unterschiedlichen Orten. »Globale Beobachtungen zeigen, dass Arten sich momentan in etwa zehn Meter pro Jahrzehnt einen Berg hinaufbewegen. Das reicht, wenn sich die Umweltbedingungen nicht zu schnell ändern. Günstig ist außerdem, dass wir an einem Berghang kurze Entfernungen zwischen verschiedenen Klimazonen haben. Das Problem ist allerdings das Timing«, erklärt Schleuning.

Denn die Samenausbreitung durch fruchtfressende Vögel ist ein komplexer und oft langwieriger Prozess. Die meisten Vogelarten breiten Samen nur über kurze Entfernungen aus. Für die so wichtige Ausbreitung über lange Distanzen sind meist nur wenige, große Vogelarten verantwortlich. Und gerade solche Arten sind durch die menschliche Landnutzung in vielen Regionen bereits selten geworden. Es ist daher wahrscheinlich, dass nicht schnell genug ausreichend Samen in höhere Regionen gelangen, damit die Pflanzen dort heimisch werden können. So bleiben Pflanzenarten zurück und drohen v.  a. in den tieferen Lagen mittelfristig auszusterben. »In Simulationsmodellen für den Manú-Höhengradienten haben wir herausgefunden, dass die Bewegungsgeschwindigkeit der meisten Pflanzenarten zu gering ist verglichen mit der Geschwindigkeit, mit der die Temperatur am Berg steigt«, sagt Schleuning.

Spezialisten sind besonders gefährdet

Solche potenziellen Klimawandel-Verlierer, die durch veränderte Wechselbeziehungen vom Aussterben bedroht sind, gibt es weltweit, auch bei uns in Mitteleuropa. Schleuning und seine Kollegen haben hier die Wechselbeziehungen von mehr als 700 Tier- und Pflanzenarten untersucht, bei denen die Pflanzen auf Bestäubung und Samenausbreitung durch Tiere angewiesen sind. Einer der möglichen Verlierer ist die Glockenblumen-Scherenbiene, eine Wildbienenart, deren Weibchen ausschließlich Pollen von Glockenblumen sammeln, um damit ihre Larven zu ernähren. Wenn Glockenblumen verschwinden, verschwindet auch die spezialisierte Glockenblumen-Scherenbiene. Die Biene trägt zudem ein doppeltes Aussterberisiko, weil sie neben ihrer Abhängigkeit von Glockenblumen auch auf spezielle Klimabedingungen angewiesen ist. Umgekehrt sind Glockenblumen – wie viele Pflanzenarten – weniger von einzelnen Tierarten abhängig, weil sie von verschiedenen Insektenarten besucht und bestäubt werden.

Doch neben den Verlierern, das ist Schleuning wichtig, gibt es auch Gewinner des Klimawandels. In Deutschland breiten sich z.B. einige Vogelarten aus dem Mittelmeerraum aus Orpheusspötter und Bienenfresser sind Beispiele hierfür. Arten, die beweglich und wenig spezialisiert sind, werden leichter mit dem Klimawandel fertig.

Aber wäre das wirklich so schlimm, wenn jetzt die Glockenblumen-Scherenbiene verschwinden würde? »Wenn eine einzelne Art ausstirbt, würde sich im gesamten Ökosystem wenig verändern«, meint Schleuning. »Aber wenn immer mehr Arten wegfallen, können Dominoeffekte ausgelöst werden und sich Ökosysteme massiv verändern. Zwar sind Ökosysteme anpassungsfähig, aber nach großen Veränderungen kann der Weg zu einem früheren Zustand verstellt sein. Und wir alle verlieren dadurch wichtige Leistungen von Ökosystemen, die wir zum Überleben brauchen.«

a: Arten sterben in tiefen Lagen aus, ihr Verbreitungsgebiet wird kleiner.
b: Arten erweitern ihr Verbreitungsgebiet nach oben.
c: Arten in Höhenlagen sterben aus, weil sie nicht weiter nach oben wandern können.
d, f: Arten verlagern ihr Verbreitungsgebiet nach oben.
e: Arten passen sich an veränderte Klimabedingungen an.

»Was bedeutet es, wenn Schönheit verschwindet?«

So spielen allein die tierischen Bestäuber in der Nahrungsmittelproduktion eine wichtige Rolle. Der Weltbiodiversitätsrat IPBES schätzt, dass sich 5 bis 8 Prozent der globalen Pflanzenproduktion direkt auf die Tierbestäubung zurückführen lassen. Diese Leistung entspricht einem jährlichen Marktwert von 200 bis 500 Milliarden Euro. Praktisch alle Melonen-, Kakao- und Kiwiblüten z.B. werden von Tieren bestäubt, bei Äpfeln, Birnen und Kirschen sind es mehr als die Hälfte.

Schleuning: »Die Rate des Artensterbens ist heute durch den Einfluss des Menschen mindestens zehn- bis hundertfach erhöht. Damit lösen wir Veränderungen aus, deren Konsequenzen wir nicht abschätzen können.« Kipppunkte etwa, wenn z.B. die Bestäubungsleistung in einem Ökosystem zusammenbricht oder wenn aus einem Wald eine Savanne wird. Oder wenn neue Schädlinge oder Krankheiten auftauchen und unsere artenarme Nahrungsmittelproduktion bedrohen. Auch das Risiko von Pandemien wird durch das Artensterben verschärft.

Zur ökonomischen Sicht auf das Artensterben kämen ethische Aspekte hinzu, meint der Artenforscher: »Was bedeutet das für jeden Einzelnen, wenn Arten unwiderruflich verloren gehen? Wenn Schönheit verschwindet?«

Schleuning ist überzeugt: »Je vielfältiger, desto widerstandsfähiger sind unsere Ökosysteme. Bei Systemen mit wenigen Arten machen wir eine Wette auf die Zukunft. Denn die Wechselbeziehungen zwischen Arten und die Rückkopplungseffekte in unserem Erdsystem machen es sehr schwer, Vorhersagen über die Zukunft unseres Planeten zu treffen. Leider verlieren wir viele Arten heute aber so schnell, dass wir die unmittelbaren Konsequenzen für uns Menschen bislang kaum abschätzen können.«

Matthias Schleuning, Jahrgang 1978, studierte Biologie an der Universität Marburg und promovierte dort 2008 mit einer Arbeit über die zeitliche und räumliche Dynamik von Pflanzenarten im peruanischen Amazonas-Tiefland. Danach forschte er an den Universitäten Mainz und Halle in Regenwäldern in Afrika und Lateinamerika. 2010 kam er nach Frankfurt, wo er am Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum (SBiK-F) zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter und seit 2015 als Arbeitsgruppenleiter tätig ist. 2014 habilitierte er an der Goethe-Universität über Netzwerke von Pflanzen und Tieren und lehrt dort als Privatdozent. Seine Forschungsschwerpunkte sind Tier-Pflanze-Interaktionsnetzwerke sowie die Modellierung von Konsequenzen des globalen Wandels für die Biodiversität.

Dieser Artikel ist in der Ausgabe „Klimakrise“ (2.2020) von Forschung Frankfurt erschienen.

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