Chaos schlägt Kartoffelsalat: Sportseminar blickt auf das WM-Auftaktspiel des Weltmeisters

Prof. Robert Gugutzer (l.) mit den Studierenden seines Seminars. Foto: Uwe Dettmar

Die Fußball-Weltmeisterschaft ist ein internationales Sportereignis, an dem dank der Massenmedien die ganze Welt teilhaben kann. Ungeachtet dieser globalen Dimension steht zumindest in den Ländern, die an der WM teilnehmen, die eigene Nation im Mittelpunkt des Interesses. Aus sport- und mediensoziologischer Sicht stellt sich daher die Frage, auf welche Weise in der medialen Berichterstattung die eigene – und kontrastierend dazu auch die gegnerische – Nation thematisiert wird. Dieser Frage sind Studierende des Masterstudiengangs Sozialwissenschaften des Sports an der Goethe-Universität in einem Seminar zur Soziologie des Mediensports nachgegangen. Sie haben dazu das erste WM-Spiel der deutschen Mannschaft gegen Mexiko analysiert.

Das Spiel dauert noch 90 Minuten, und das Runde muss ins Eckige. Das sind die Rahmenbedingungen für jedes Fußballspiel auf der Welt – aber bei weitem nicht die einer Fußballfernsehübertragung. Lange vor dem Anpfiff werden die Zuschauer durch die Vorberichterstattung von Reportern, Moderatoren und Experten über die Vorzeichen des anstehenden Schlagabtauschs unterrichtet und im Anschluss an das Spiel wieder aufgefangen, um das Erlebte zu diskutieren und einzuordnen.

Auch beim WM-Auftakt der Deutschen Fußball-Nationalmannschaft in Russland gegen die Auswahl aus Mexiko wurde die Fernsehübertragung in drei Akten präsentiert. Mit Blick auf die Darstellung der beiden Nationen ist die unterschiedliche Ausprägung der Thematisierung innerhalb dieser Struktur nicht nur auffällig, sondern augenscheinlich auch eng mit dem Abschneiden des deutschen Teams verknüpft. Während das Aufgreifen von Klischees in den Vorberichten kaum zu überbieten ist, kippt die Darstellung während des Spiels immer mehr ins sportlich-sachliche, während nach dem Spiel ausschließlich sportliche Aspekte diskutiert werden.

Die Verschiebung von nationalen Klischees und Stereotypen hin zur sachlich-sportlichen Analyse ist gemessen am Verlauf des Spiels einerseits bemerkenswert. Aufgrund der unterschiedlichen Ausgangspunkte überrascht es andererseits aber auch nicht, dass auf diese Stilmittel mal mehr, mal weniger zurückgegriffen wird. Vor dem Spiel ist der Ausgang ungewiss: Alles ist möglich. Es könnten frühere Spiele taktisch durchleuchtet werden, was einen Großteil der Zuschauer jedoch vermutlich langweilen würde. Stattdessen fungieren die Vorberichte als eine Art „Stimmungsanheizer“, bei dem alles erlaubt zu sein scheint. Während des Spiels liegt es dagegen nahe, über das rein Sportliche zu sprechen, da das Spielfeld die meiste Zeit im Bild zu sehen ist und ständig etwas Neues passiert. Nach dem Spiel haben die Spekulationen dann ein Ende – das Ergebnis steht fest und lädt zur sportlichen Analyse ein.

Klischees und Stereotypen

Bis der Zuschauer allerdings die Expertenmeinungen zum Spiel auf sich wirken lassen kann, muss er überhaupt so lange vor dem Bildschirm gehalten werden. Was der Sport von sich aus nicht schafft, versucht die Berichterstattung durch Emotionalisierung und Identifikationsangeboten für den Zuschauer auszugleichen. Um auch dem sportfernsten Publikum einen Zugang zu diesem Spiel zu bieten und klarzustellen, dass es bei der folgenden Partie um mehr als nur die elf Spieler auf dem Rasen geht, werden einfachste und alte Stereotype verwendet und Klischees bedient. Frei nach dem Motto: Schaut mal in die Schubladen, wir brauchen einen Vorbericht!

Folgerichtig ging die ZDF in die Schrebergartensiedlung „Die Scholle“ nach Duisburg, um ein Bild „der Deutschen“ zu zeichnen, das Identifikation vereinfacht und emotionale Reaktionen hervorruft. Bier, weiße Tennissocken in Sandalen, Gartenzwerge, Plastikstühle und Kartoffelsalat werden vor einem Hintergrund aus Deutschlandfahnen, Kleingartenidylle und noch mehr Bier in den Fokus gerückt. Die Szenerie mit ihren größtenteils älteren Menschen, denen man den Bier- und Kartoffelsalatgenuss doch irgendwie ansieht, versprüht einen konservativen, spießigen, ordnungsliebenden, kleinbürgerlichen Biedermeier-Esprit. Der deutsche Fan ist gemütlich, pragmatisch und alkoholisiert, wie einer der Schrebergartenbesitzer mit dem Statement „Ohne Bier läuft hier gar nichts!“, zusammenfasst. Voller Stolz zeigen sie, was auch das Ausland seit Jahrzehnten für typisch deutsch hält.

Bei den mexikanischen Fans hingegen ist „immer was los“, „sie glauben an Wunder“ oder zumindest an ihre Helden, wie beispielsweise ihren „Hexer im Tor“. Im Gegensatz zu den interviewten Menschen im Beitrag über die deutschen Fans treten die mexikanischen Anhänger auf den gezeigten Bildern als jubelnde, verkleidete, tanzenden und singende Masse auf, die „schon seit Tagen feiert“ und „ganz schön Alarm macht“. Auch die Fußballmannschaft Mexikos wird als polarisierend präsentiert. Der Trainer ist ein „verrücktes, cholerisches Genie“ und ein illegaler Einwanderer, der einen Journalisten geschlagen hat. Der mexikanische Rekordnationalspieler Rafael Marquez ist in Drogengeschäfte verwickelt. Der Torwart „fliegt auch mal, wenn es gar nicht nötig ist“, hat mit Jèsus Corona aber einen Back-up mit „tollem Nachnamen“, nämlich den einer Biermarke. Zu guter Letzt schien es naheliegend für die Redakteure, das mexikanische Team als eine „lustvolle Truppe“ zu betiteln. All diese Geschichten sind vielleicht interessant und amüsant, aber sicher nicht wichtig für die sportliche Leistung. Außerdem gäbe es ebenso heikle Angelegenheiten auf deutscher Seite zu berichten, was hier explizit unterlassen wird.

Die Stereotype der beiden Nationen, die in diesem Beitrag im Rahmen der Vorberichterstattung transportiert wurden, bedienen ausschließlich Klischees und liefern dem Zuschauer nur altbekannte länderspezifische Zuschreibungen. Eine emotionale Bindung zur Nation findet sehr wahrscheinlich dennoch oder gerade deshalb statt. Identifikation erfolgt durch Abgrenzung, was hier mit einfachsten Mitteln und gegensätzlichen Eigenschaftszuschreibungen geschieht. Dem Soziologen Benedict Anderson nach wird das Konzept der Nation wirksam, indem Menschen sich handelnd auf das Konzept der Nation beziehen. Wenn sich der Vorsitzende der „Scholle“ als Fan der deutschen Fußballnationalmannschaft mit Bier, Kartoffelsalat und Gartenzwerg vor den Fernseher setzt und sich ein Gemeinschaftsgefühl aufgrund von nationaler Zugehörigkeit entwickelt, obwohl er weder einen der Spieler ist noch den Großteil seiner vorgestellten Gesellschaft „Nation“ persönlich kennt, konstituiert er damit einen Teil des Konzepts der Nation mit.

Die Deutschen und die Mexikaner

Die Kommentation während des Spiels verlangt hingegen ein genaueres Hinsehen und -hören, um nationale Zuschreibungen und Repräsentationen zu entdecken. Auffällig ist jedoch, dass über die gesamte Spielzeit hinweg von „den Deutschen“ und „den Mexikanern“ gesprochen wird und nur selten spezifischere Beschreibungen wie „die deutsche Mannschaft“ oder gar „die deutsche Fußballnationalmannschaft“ genutzt werden. Sieht man vom praktischen Aspekt, der kürzeren Form, ab, wird durch die Formulierungen suggeriert, dass die Teams der jeweiligen Mannschaft stellvertretend für das gesamte Land und die Nation stehen. Dadurch entsteht ein größeres Identifikationspotential für Zuschauer. Wie in der Vorberichterstattung, werden „die Mexikaner“ mit stereotypischen Attributen belegt. Sie spielen leidenschaftlich, chaotisch, furios oder schludrig. Abgrenzend dazu gilt: „Je wilder und chaotischer ein Spiel ist, desto schlechter ist das für die deutsche Mannschaft.“ Belässt es der Kommentator während des Spiels bei einer neutralen Berichterstattung, verfallen die Experten in der Halbzeitpause wie selbstverständlich in ein „Wir“ und erweitern so den legitimen Kreis der Zugehörigkeit zur Mannschaft auf Außenstehende. Wieder wird im Sinne des Konzepts der Nation gehandelt und diese dadurch gleichzeitig konstituiert.

Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Bezogen auf die Darstellung der Nation in der Fußballberichterstattung bei dieser Begegnung trifft das jedoch nicht zu. Im Studio wird nüchtern und sachlich diskutiert und analysiert. Keine Spur von Übertragbarkeit dessen, was auf dem Platz stattgefunden hat, auf die gesamte Nation. Ob das wohl auch so ausgefallen wäre, wenn die deutsche Fußballnationalmannschaft gewonnen hätte?

[Analyse von Lukas Schwank und Maurice Stach,
Studierende des Masterstudienganges Sozialwissenschaften des Sports]

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