Der Erziehungswissenschaftler Dieter Nittel über das Phänomen Bob Dylan

Bob Dylan 2010 auf der Bühne des Azkena Rock-Festivals in Victoria-Gasteiz.

UniReport: Herr Prof. Nittel, was macht den Sänger und Songwriter für einen Erziehungswissenschaftler überhaupt interessant?

Dieter Nittel: Bob Dylan hat als kulturelle Leitfigur unzählige Anstöße für informelle Lern- und individuelle Veränderungsprozesse bei vielen Menschen weltweit gegeben. Er dient als Blaupause postmoderner Identitätsformationen. Das bedeutet: immer wandlungsfähig zu sein, sich nie auf nur ein Merkmal festlegen zu lassen, ein spielerisches und zugleich ernsthaftes Verhältnis zur Religion zu pflegen und die ganze Welt als sein Zuhause zu betrachten. So gesehen stellt er eben nicht nur eine Künstlerpersönlichkeit dar, sondern hat den Status einer Bildungsinstitution sui generis. Genau das – seine Stellung als Vorbild, das selbst partout kein Vorbild sein will – macht ihn als Objekt pädagogischer Erkenntnisinteressen attraktiv.

Hat ihn sein Literatur-Nobelpreis noch interessanter gemacht?

Seit seiner letzten Schaffensperiode, damit ist die Phase im Anschluss an das Album „Time Out Of Mind“ (1997) bis heute gemeint, spielt Dylan sowieso in einer ganz anderen Liga unserer globalisierten Kulturindustrie. Er profitiert von ihr, ist aber auch gleichzeitig ihr konsequentester Opponent. Die von ihm ausgehende Faszination ist durch den Literatur- Nobelpreis vielleicht ein wenig, aber nicht massiv gesteigert worden. Der Nobelpreis und der Trubel drum herum waren für ihn bloßes Medium einer negativen Distinktion.

Und was sagt der Erziehungswissenschaftler zu Dylans beharrlicher Weigerung, den Preis persönlich in Empfang zu nehmen?

Durch seine Never-Ending-Tour, sein ständiges Unterwegs- Sein mit zahllosen Konzerten, kultiviert er die Lebensform des Pilgertums ebenso, wie er sein Leben als solches als Kunstwerk zu inszenieren pflegt. Neben seinen musikalischen Aktivitäten malt er schließlich auch Bilder und entwirft Plastiken; früher hat er auch Filme gedreht. Die Vergabe des Literatur-Nobelpreises reduziert Dylan auf Literatur und genau das entspricht nicht annähernd seinem tatsächlichen Selbstbild. Dieses ist einerseits viel simpler und bescheidener gestrickt, und zwar im Sinne einer einschlägigen Selbstdefinition „I think of myself more as a song and dance man“. Andererseits ist dieses Selbstbild sehr komplex modelliert, und zwar als Hybrid zwischen Künstlertum und Intellektuellenexistenz. Wer Bob Dylan 2012 bei der Verleihung der Presidential Medal of Freedom durch Barack Obama beobachtet und das, entschuldigen Sie bitte den Ausdruck, „Zappelphilipphafte“ und die Charlie-Chaplin-Attitüde seines Auftritts registriert hat, konnte eine Vorahnung davon gewinnen, dass er im Falle der damals schon diskutierten Verleihung des Nobelpreises diesen u. U. eben nicht persönlich annehmen würde.

Sie sträuben sich im Unterschied zu anderen Exegeten, Dylans Biographie als „rätselhaft“ zu betrachten, ihn gleichsam zu „mystifizieren“ – warum?

Das Etikett „rätselhaft“ ist angesichts der zahlreichen, zum Teil vorzüglich recherchierten Biographien über Bob Dylan keine sonderlich intelligente Bezeichnung. Mein Kollege von der katholischen Theologie, Knut Wenzel, in meinen Augen übrigens der beste Dylan-Experte an dieser Universität, kennt eine Menge dieser Biographien und weiß, welche dieser Bücher besonders präzise Bilder seines Lebensablaufs zeichnen. Wenn uns die Mitteilung „rätselhaft“ im Zusammenhang mit Dylan unterbreitet wird, hören wir primär die Stimme der Marketingabteilungen. Diese reagieren konform auf die Selbstmystifizierung des Betroffenen. Die Leidenschaft für Bob Dylan – auch die wissenschaftlich motivierte – sollte jedoch nicht so weit gehen, ihm jede Theorie zu glauben, die er über sein Leben in die Welt zu setzen pflegt.

Sie erschließen in Ihrem Beitrag Dylans Bildungsgeschichte anhand eines Instrumentariums, das in einem Projekt mit von einer lebensbedrohlichen Erkrankung betroffenen Menschen entwickelt wurde. Was war der Grund für diese methodische Entscheidung?

Hier die auf der Hand liegende Antwort zuerst: Die von mir genutzte Heuristik stellt eine Reaktion auf die eminent wichtige Rolle von Krankheiten in Dylans objektivierbarem Lebensverlauf dar. Seine Kindheit und Jugend wurde nun einmal durch die Krankheit des Vaters (Poliomyelitis) und die damit verbundene Arbeitsunfähigkeit maßgeblich bestimmt. In seinem frühen Erwachsenenleben laborierte er über viele Jahre an den Folgen eines schweren Motorradunfalls herum, so konnte er Jahre lang keine Gitarre mehr spielen. Im späten Erwachsenenleben war Bob Dylan dann schließlich von einer lebensbedrohlichen Infektionskrankheit befallen, die wohl auch die Herzfunktion bedroht hat. Darf ich noch meine zweite Antwort loswerden? Biographisch folgenreiche Lernprozesse werden, so meine Forschungsergebnisse, maßgeblich durch Leidensprozesse und Krisen ausgelöst, gleichgültig ob sie nun durch Krankheit oder durch andere „Schicksalsschläge“ flankiert werden. Das von uns entwickelte Instrumentarium lässt sich nicht nur auf Patientengruppen anwenden. Es hat sich bei der Analyse von erfolgreichen Existenzgründern und Teilnehmern beruflicher Umschulungsmaßnahmen hinreichend bewährt. Unser Lernmodell erklärt übrigens auch, dass Studien- und andere Bildungsbiographien eben nicht so gradlinig verlaufen, wie es die meisten pädagogischen Institutionen gerne hätten.

Dylan hat seinen Bildungskontext in der Musik von Hank Williams, Little Richard und anderen musikalischen Vorbildern gefunden – vielleicht nicht untypisch für die Lebensentwürfe der Beat- und Hippie-Generation. Wo liegen die Schattenseiten bzw. Herausforderungen dieses selbstgewählten Künstler- und Musikerdaseins jenseits formaler Bildungskontexte und -verläufe?

Bob Dylan führt bestimmte Stilelemente der westlichen Kultur und Tendenzen der amerikanischen Lebensweise bis ins Extrem prototypisch fort. So steigert er beispielsweise in seiner Künstlerexistenz den Individualismus und die Maxime der Selbstverwirklichung. Das geht natürlich auch auf Kosten anderer Menschen. Wer die Autobiographie von Suze Rotolo, einer seiner frühen Partnerinnen aus den 1960iger Jahren, gelesen hat, gewinnt eine realistische Vorstellung davon, dass diese Radikalisierung der künstlerischen Lebensform und ein überdrehter Individualismus auch Nachteile und Erwartungsenttäuschungen bei anderen produziert.

Sie schreiben: Er nimmt ab Mitte der 60er Jahre, als Exponent der Folk- und Rockkultur, verstärkt Drogen, schichtet sich damit „Verlaufskurvenpotenzial“ auf – was hat man darunter zu verstehen?

Als Verlaufskurven – der englische Ausdruck „trajectory“ ist sprachästhetisch wohl etwas gefälliger – werden langfristige Prozesse des Erleidens und Erduldens im Horizont der Lebensspanne bezeichnet. Hier schlägt der gewöhnlich vorherrschende intentionale Handlungsmodus in den konditionalen, also in den Zustand des Getrieben-Werdens um. Der von mir verwendete Begriff bezeichnet den bei Dylan den ausgebliebenen schleichenden Übergang zwischen den kontrollierten und den unkontrollierten Praktiken innerhalb einer Drogenkarriere. Der in der Musikszene keineswegs seltene extensive Drogenkonsum kann in chronische Abhängigkeiten einmünden, die tödlich enden können. Das zeigen ja die Schicksale von Janis Joplin, Jim Morrison und Amy Winehouse und vielen anderen, weniger bekannten Künstlerinnen und Künstlern.

Ab Mitte der 70er Jahre sehen Sie in Dylans Biographie einen bis heute wirkmächtigen Mechanismus: das „Oszillieren eines iterierenden biographischen Wandlungsprozesses einerseits und temporären Verlaufskurven anderseits“.

Wir Normalbürger erleben in unseren Lebensverläufen ja ebenfalls Phasen des gesteigerten Lernens und positive Bildungserfahrungen, in denen wir das Verhältnis zwischen uns als Subjekte und der Welt gleichsam neu justieren. Sozialforscher nennen das Wandlungsprozesse der biographischen Selbstidentität. Davon abgetrennt vollziehen sich andere Prozessstrukturen, wie etwa die bereits erwähnte Verlaufskurve bzw. Phasen des Erleidens. Im Unterschied zu Künstlerbiographien wie der von Dylan laufen diese beiden Prozessstrukturen bei den allermeisten Menschen ungleichzeitig bzw. asynchron ab. Ich glaube in meiner Analyse allerdings Anhaltspunkte gefunden zu haben, die bei Dylan auf wechselseitige Synergieeffekte – gleichsam ein gegenseitiges Aufschaukeln – zwischen den beiden Prozessstrukturen der kreativen Wandlung und die des Erleidens hindeuten. Ganz unabhängig, ob meine Deutung richtig oder falsch ist: Die Beobachtung, dass die Prozessstruktur der Wandlung bei Dylan eine Verstetigung erfahren hat, ist sehr evident. Nun scheint das im Übrigen ein in Künstlerbiographien keineswegs unbekannter Mechanismus zu sein: Individueller Schmerzens- und Leidenserfahrungen werden sublimiert und in Kreativität und Schaffenskraft transformiert. Nur klappt das bei den allermeisten Künstlern eben nicht über einen so langen Zeitraum wie bei Dylan. Das ist eine Begründung für seinen Ausnahmestatus als Künstler. Und dieser exklusive Rang ist eben nicht an den Nobelpreis gebunden.

Die Fragen stellte Dirk Frank.

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Zum Weiterlesen

Dieter Nittel: Bob Dylan! Versuch einer lernbiographischen Deutung. In: Hessische Blätter für Volksbildung 3/2015, S. 235-245.

Knut Wenzel: Zur Preiswürdigkeit des Werks von Bob Dylan.

Axel Honneth, Peter Kemper, Richard Klein (Hrsg.): Bob Dylan – Ein Kongreß. Frankfurt: Suhrkamp, 2007

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Dieser Artikel ist in der Ausgabe 1.17 (PDF-Download) des UniReport erschienen.

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