Die Machtlosigkeit der Arbeiterklasse im 21. Jahrhundert

Cain Shelley, britischer Politikwissenschaftler, beschäftigt sich als Fellow am Forschungskolleg Humanwissenschaften mit dem Thema »A Class For Itself?: The Future of Class Politics«.

Der Begriff der „Klasse“ wird heute mitunter sehr kritisch gesehen. Cain Shelley, der an der London School of Economics mit einer Arbeit zum Konzept des Klassenbewusstseins und politischen Praktiken promoviert hat, möchte aber den Begriff wieder mit Leben füllen. Im Gespräch mit dem UniReport konzediert er, dass man im politischen oder akademischen Diskurs weitaus seltener auf Diskussionen über Klasse stoße, als dies früher der Fall gewesen sei. „Ich will nicht leugnen, dass sich die Gesellschaften seit der industriellen Revolution dramatisch verändert haben, aber ich versuche in meiner Arbeit zu argumentieren, dass es dennoch ein Fehler wäre, die Sprache der Klasse aufzugeben.

Trotz vieler signifikanter Veränderungen können wir immer noch verschiedene Gruppen von Individuen beobachten, die bei der Produktion von Gütern und Dienstleistungen in ihren Gesellschaften über sehr unterschiedliche Macht verfügen“, betont Shelley. Wenn man an Menschen denke, die als Lehrkräfte, Busfahrer, Postangestellte, Krankenhausträger, Barpersonal, Reinigungskräfte, Bauarbeiter, Supermarktkassierer, Lagerarbeiter usw. arbeiten, so müsse man sehen, dass diese Menschen im Allgemeinen eine produktive Tätigkeit unter hochgradig routinierten und standardisierten Bedingungen ausübten, aber nicht über die Macht verfügten, sich aus dem Produktionsprozess zurückzuziehen.

„Diese Personen leiten, kontrollieren oder verwalten auch niemanden sonst im Produktionsprozess und werden einfach von anderen geleitet und verwaltet. Menschen, die in solchen Rollen arbeiten, bilden meiner Ansicht nach die Arbeiterklasse des 21. Jahrhunderts in ‚fortgeschrittenen kapitalistischen‘ Gesellschaften – im Unterschied sowohl zur Mittelklasse als auch zur Kapitalistenklasse, die sehr unterschiedliche Macht über den wirtschaftlichen Produktionsprozess besitzen.“ Die Arbeiterklasse, so Shelley, umfasse seiner Ansicht nach weder nur Arbeiter, (sogenannte) „ungelernte“ Arbeiter, hochgradig verarmte Arbeiter noch Arbeiter eines bestimmten Geschlechts oder einer bestimmten Rasse.

Gegen Klassenreduktionismus

Wie sieht Shelley grundsätzlich aktuelle Fragen nach der Bedeutung von Geschlecht und Rasse, inwieweit können diese Konzepte mit dem der Klasse in Beziehung gesetzt werden? „Natürlich sind Analysen der Unterdrückung von Geschlecht und Rasse für ein vollständiges Bild der Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit einer Gesellschaft notwendig. Und wir sollten es auf jeden Fall vermeiden zu behaupten, dass die Abschaffung von Klassen allein eine vollkommen gerechte, unterdrückungsfreie Gesellschaft schaffen würde, wie es einige Leute getan haben. Aber es ist durchaus möglich zu behaupten, dass die Klasse ein wichtiger und notwendiger Bestandteil unserer Theorien ist, ohne in einen Reduktionismus zu verfallen. Die Schwierigkeit besteht darin, all diese Überlegungen gleichzeitig im Blick zu behalten.

Feministische und antirassistische Theoretikerinnen haben orthodoxen marxistischen und anderen sozialistischen Darstellungen von Klasse zu Recht sehr kritisch gegenübergestanden, weil sie zu einer Art ‚Klassenreduktionismus‘ führen, bei dem alle anderen Formen der Unterdrückung als zweitrangig und weniger wichtig als die Klasse angesehen werden. Eine der Ideen, die ich während meines Forschungsaufenthaltes hier näher untersuchen möchte, ist die Frage, was es bedeutet, zu sagen, dass sich die Unterdrückung von Geschlecht und Rasse mit der Klassenherrschaft ‚überschneidet‘ (und umgekehrt), und welche Auswirkungen diese Sichtweise auf die Aussichten der Klassenmobilisierung hat“, so Cain Shelley.

Er sieht aber durchaus, dass der Begriff der Klasse in Großbritannien und Deutschland unterschiedlich verwendet wird, gerade im Hinblick auf unterschiedliche Gesellschaftsformen: Es gebe in der Tat entscheidende Unterschiede zwischen der Art und Weise, wie die wirtschaftliche Produktion in einem Land wie Deutschland organisiert sei, das oft als „koordinierte Marktwirtschaft“ bezeichnet werde, und seinem Heimatland Großbritannien. Hier spreche man auch von einer „liberalen Marktwirtschaft“. Er betont: „Dennoch können wir in beiden Ländern verschiedene Gruppen von Individuen beobachten, die sehr unterschiedliche Macht bei der Produktion von Gütern und Dienstleistungen in ihren Gesellschaften besitzen, so würde ich zumindest argumentieren. Das bedeutet, dass das Konzept der wirtschaftlichen Klasse nach wie vor ein wichtiges Instrument ist, um die allgemeine Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit in beiden Gesellschaften zu verstehen und jene Akteure zu isolieren, die am effektivsten zu Prozessen der progressiven sozialen Transformation beitragen können.“

Sieht er sich als politischer Aktivist? Manche Sozialwissenschaftler, sagt er, versuchten, ihre akademische Forschung völlig von ihrem persönlichen politischen Engagement zu trennen, aber das sei etwas, wozu er nie in der Lage gewesen sei. Er trenne also nicht strikt zwischen seiner Arbeit in der Wissenschaft und seinem Aktivismus. „Die amerikanische politische Philosophin Nancy Fraser hat diesen wunderbaren Satz formuliert, dass kritische Theoretiker eine ‚parteiische, wenn auch nicht unkritische Identifikation‘ mit bestimmten politischen Anliegen und Aktivistengruppen hätten. Diese Bindungen prägen die Fragen, die kritische Theoretiker stellen, und die Annahmen, die sie für nicht verhandelbar halten, aber der Theoretiker versucht dennoch zu vermeiden, in unreflektierte politische Loyalität abzugleiten oder unbequeme empirische Befunde zu ignorieren. Dies ist das Modell des ‚aktivistischen Theoretisierens‘, das ich zu beobachten versuche.“ Generell findet Shelley die Tradition der kritischen Theorie, die von der Frankfurter Schule ausgeht, sehr inspirierend. Daher sei die Goethe-Universität mit ihren Verbindungen zu Persönlichkeiten wie Adorno und Horkheimer eine natürliche Heimat für ihn.

Das Forschungskolleg ist für Shelley der perfekte Ort, um sein erstes Jahr als Postdoktorand zu verbringen. „Wochenendausflüge in den nahe gelegenen Taunus oder Spaziergänge in den vielen Parks von Bad Homburg haben mir beim Schreiben sehr geholfen, und auch die vielen Diskussionen mit den anderen Fellows hier waren sehr inspirierend. Außerdem nehme ich wöchentlich am Deutschunterricht teil, der vom Goethe Welcome Centre auf dem Frankfurter Hauptcampus angeboten wird – leider ist mein Deutsch immer noch ziemlich miserabel, aber ich hoffe, dass ich bis zum Ende meiner Zeit hier einige Fortschritte machen werde!“

Foto: Stefanie Wetzel

    Cain Shelley folgt einer Einladung von Rainer Forst, Professor für Politische Theorie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, und dem an der Universität angesiedelten Justitia Centre for Advanced Studies, das von der Alfons und Gertrud Kassel-Stiftung gefördert wird.
    www.forschungskolleg-humanwissenschaften.de

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