Ethnologen und Soziologen befassen sich seit dem 19. Jahrhundert mit dem sozial und kulturell Fremden. Als „teilnehmende Beobachter“ und „Feldforscher“ versuchen sie sich – als eine Art Zuwanderer auf Zeit – mit einer anderen Lebensform vertraut zu machen und ihren Charakter zu begreifen. Zu welchen Einsichten gelangen sie dabei? Darüber und vor allem über ihre eigenen Erfahrungen sprach der Philosoph und Publizist Dr. Rolf Wiggershaus in der jüngsten Ausgabe des Wissenschaftsmagazins „Forschung Frankfurt“ (2/2016) mit fünf Frankfurter Professorinnen und Professoren: den Ethnologen Mamadou Diawara und Hans Peter Hahn, Karl-Heinz Kohl und der Ethnologin Susanne Schröter sowie der Soziologin Kira Kosnick.
Blickt man auf den Sprachgebrauch, so scheint klar: Wer sich vor dem Fremdem verschließt, bleibt oder wird eigen. Und das bedeutet: absonderlich, starrsinnig, erfahrungsresistent. Xenophobie und Ethnozentrismus gibt es nicht nur heutzutage bei Alteingesessenen, die mit Migranten nichts zu tun haben wollen, weil sie darin eine Gefahr für ihre Identität sehen. Auch die europäischen Kolonisatoren kamen nach Amerika und Afrika als Eroberer und nicht, um mit den dort lebenden Völkern in einen beide Seiten bereichernden Kontakt zu treten. Das Verhältnis zum Fremden und zu Fremden ist kompliziert und changiert zwischen Furcht und Faszination, Verachtung und Idealisierung, Abwehr und Verlangen.
„Othering“ – abgeleitet vom englischen „other“ – wurde zur Bezeichnung für einen Vorgang, der, so Hahn, „den anderen zum Anderen macht und ihn ganz in seiner Andersartigkeit verortet und damit die gesellschaftliche oder kulturelle Distanz zementiert“. Pauschal verwendet kann der Othering-Vorwurf zum Mittel werden, sich jeglichen Blick von außen zu verbitten. Ohne den aber, so Karl-Heinz Kohl, bleibt man in der Selbstverständlichkeit der eigenen Kultur befangen. Das Ideal wäre deshalb eine „relationale Fremdheit“.
Hans Peter Hahn erinnert daran, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Fremden als „ein Bastard aus Exotismus und Kolonialismus“ entstand. Die weitgehend risikolose Erforschung außereuropäischer Einheimischer durch die ihnen fremden europäischen Forscher war nur durch eine Art „kolonialen Frieden“ möglich, in dem Missionare, Händler und Kolonialbeamte die Situation unter Kontrolle hatten. Die Exotik – das Betonen von Besonderheiten und das Ausmalen des Fremdartigen – unterstrich das hierarchische Gefälle zwischen der Zivilisation der Kolonisatoren und den Kulturen der Eingeborenen, steigerte die ambivalenten Gefühle von Lust und Angst und sicherte der Ethnologie einen eigenen Gegenstandsbereich.
Er selbst praktizierte in den 1980er Jahren als nahezu klassischer Feldforscher auf einer ostindonesischen Insel das Eintauchen in eine fremde Kultur bis hin zum (Fast-)-Mitgerissenwerden bei Tieropfern während eines großen Festes. Heute beobachtet er im eigenen Land mit Sorge einen gegenseitigen Abgrenzungsprozess. Einerseits wird das Multikulti-Narrativ seitens der Zuwanderer inzwischen ernst genommen und kulturelle Andersheit selbstbewusst und sichtbar demonstriert. Andererseits wird auf Migrationsbewegungen von immer mehr Einheimischen immer offener mit Fremdenfeindlichkeit reagiert.
Susanne Schröter erlebte 1983 in Sri Lanka den Ausbruch des Bürgerkriegs zwischen der singhalesischen Mehrheit und der teilweise aus Indien stammenden tamilischen Minderheit. Sie war erschüttert über die vorbehaltlose Zustimmung ihrer singhalesischen Gastgeber zu den Massakern an Tamilen, erfuhr dann aber auch von tamilischen Racheaktionen, denen Frauen und Kinder zum Opfer fielen. Zu einem Schlüsselproblem wurde für sie, wie man der transkulturellen Tendenz zur Überhöhung des Eigenen und Abwertung des Anderen entgegenwirken kann. Mamadou Diawara, aus Mali stammend, versteht sich als Brückenbauer zwischen Afrika und westlicher Welt, zwischen lokaler Tradition und globaler Moderne. In einer globalisierten Welt ist es gleichzeitig ökonomisch nötiger und praktisch schwieriger geworden, in jungen Jahren in die Ferne aufzubrechen, um sich dort zu bewähren und schließlich zur Verbesserung der Verhältnisse in der Herkunftswelt beizutragen.
Als einen Ort der erwünschten Begegnung mit Unbekannten, Fremden hat Kira Kosnick Ethnoclubs ausgemacht. Sie bilden seit einiger Zeit einen Bestandteil urbanen Nachtlebens in europäischen Großstädten. Gerade für junge Leute mit Migrationshintergrund können Clubszenen zur Probebühne für das Experimentieren mit kulturellen Normen werden. So kann beispielsweise eine junge türkische Frau zu ihrer Musik tanzen, ohne befürchten zu müssen, von Männern sexuell belästigt zu werden.
Der richtige Umgang mit Fremden und Fremdem, das zeigen die Gespräche, ist eine wahre Kunst und verlangt Menschen viel ab. Diese Kunst ist zugleich nötiger denn je auf einem immer enger werdenden Planeten, auf dem Menschen sich immer weniger aus dem Weg gehen können und Schmelztiegel-Gesellschaften zur dominierenden Realität werden. Nur wenn für Möglichkeiten zur Begegnung von Einheimischen und Migranten gesorgt ist, kann es zu Prozessen gegenseitigen Kennenlernens und Lernens kommen statt zu gegenseitiger Abgrenzung und Dämonisierung.
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Die aktuelle Ausgabe von „Forschung Frankfurt“ (2/2016) kann kostenlos bestellt werden: ott@pvw.uni-frankfurt.de. Im Internet steht sie unter: www.forschung-frankfurt.de.
Zum Weiterlesen:
- Zwischen „eigen“ und „fremd“ – Interview mit Mamadou Diawara
- Für ein Zusammenleben, bei dem man einander auch “fremd” bleiben darf (PDF)
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