Neue Therapieansätze für komplexe Krankheiten – das Clusterprojekt ENABLE

Die extreme Form, wie Zellen im Gleichgewicht bleiben: Zu viele Schäden lösten
das zelluläre Selbstzerstörungsprogramm »Apoptose« aus. Die Zelle geht zugrunde,
damit sie nicht entartet.

Die Entwicklung neuartiger Medikamente gegen Entzündungen und Infektionen ist das Forschungsziel des Clusterprojekts ENABLE, mit dem sich unter Federführung der Goethe-Universität Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Frankfurt, Bad Nauheim, Berlin und Dresden auf die nächste Runde der Exzellenzstrategie vorbereiten. Basis für die Medikamentenforschung wird die Untersuchung des inneren Gleichgewichts von Zellen (Homöostase) sein. Das Land Hessen, die Goethe-Universität und die Mitantragsteller fördern das Projekt mit rund 17 Millionen Euro.

Unseren Körper nehmen wir selber als Einheit wahr, doch besteht er aus der unvorstellbar großen Zahl von 100 Billionen einzelner Zellen. Im Körper wirken sie alle zusammen, ausdifferenziert in mehr als 300 Zelltypen und mit den unterschiedlichsten Aufgaben. Viele Körperzellen erneuern sich fortwährend: Rund alle zehn Jahre haben wir z. B. ein neues Skelett, rote Blutkörperchen werden nach vier Monaten ausgetauscht. Manche Herzzellen oder Nervenzellen im Gehirn und Rückenmark überdauern dagegen ein Leben lang.

Damit Zellfunktionen und Zellerneuerung gewährleistet werden können, verfügt der Körper über eine riesige Menge an Regelmechanismen: Das Kommunikationsnetzwerk des Körpers ist gewaltig. All dies dient dazu, Stabilität im Körper als Ganzem und in den einzelnen Zellen zu erhalten. Wissenschaftler* innen sprechen von der Homöostase, dem inneren Gleichgewicht des Organismus und der einzelnen Zelle.

Dieses Gleichgewicht ist nicht statisch, denn die Umgebung des menschlichen Körpers ändert sich fortwährend, und entsprechend steht auch die einzelne Zelle in stetem Austausch mit ihrer Umgebung durch die Aufnahme und Abgabe von Nährstoffen, Sauerstoff und Kohlendioxid und durch das Senden und Empfangen zahlloser Signale in Form von Botenstoffen. Diese Botenstoffe werden von Zellen ausgeschüttet oder heften sich – von außen kommend – an Bindeproteine in der Zellmembran oder nach Aufnahme in die Zelle im Inneren der Zelle an. In den Zellen löst dies weitere Signalketten aus, die miteinander „verrechnet“ werden und eine Reaktion der Zelle auf die Signale auslösen: Wachstum oder Zellteilung etwa wird initiiert oder beendet und Stoffwechselwege werden an- und abgeschaltet. Beschädigungen des Erbmoleküls DNA führen zu Stressreaktionen der Zelle, in deren Folge DNA-Reparaturproteine gebildet und die Zellteilung gestoppt werden. Drohen die Schäden überhandzunehmen, produziert die Zelle spezielle Proteine, die ihr Selbstzerstörungsprogramm „Apoptose“ aktivieren.

Gelingt es der Zelle nicht, ihre Homöostase (einschließlich der Fähigkeit zur Apoptose) aufrechtzuerhalten, so sind die Folgen gravierend: Fehlende Kontrolle der Zellteilung etwa ist eine Ursache für Krebs. Falsch gefaltete Proteine, die innerhalb der Zelle nicht entsorgt werden und sich anreichern, spielen eine zentrale Rolle bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer-Demenz, Morbus Parkinson und Amyotropher Lateralsklerose.

Um Ansätze für neuartige Medikamente gegen solche Krankheiten zu finden, interessieren sich die ENABLE-Forscher*innen besonders für die Mechanismen, mit deren Hilfe die Zelle ihre Homöostase überwacht. Mehrere Teilprojekte etwa beschäftigen sich dabei mit einer Gruppe von Proteinen (p53), die als sogenannte Transkriptionsfaktoren die Bildung weiterer Proteine steuern, indem sie an die DNA binden. p53-Proteine sind zentrale Schaltstellen in Signalwegen, die bei Zellstress wie einer Virusinfektion aktiviert werden und u. a. Apoptose auslösen. ENABLE-Sprecherin Prof. Maike Windbergs vom Institut für Pharmazeutische Technologie erklärt: „Wir möchten gerne herausfinden, welche Rolle p53-Proteine in der zellulären Homöostase spielen und wie sie und weitere zentrale Spieler der zellulären Qualitätskontrolle mit anderen Signalnetzwerken in der Zelle zusammenhängen. Denn es gibt ganz offensichtlich Verbindungen zu Entzündungsreaktionen der Zelle und zum System, mit dem die Zelle beschädigte oder nicht mehr benötigte Proteine abbaut, dem Ubiquitin-Proteasom-System.“

Im zweiten großen Themenblock werden ENABLE-Wissenschaftler*innen untersuchen, wie Bakterien und Viren mit Körperzellen interagieren, welche Immunantworten hierdurch ausgelöst werden und wie es in der Folge zu Gewebeschäden und Krankheiten kommt. Denn so wie das Spike-Protein von SARS-CoV-2 erst die Infektion der menschlichen Wirtszellen ermöglicht, besitzen Viren und Bakterien ganz unterschiedliche und jeweils sehr spezifische Moleküle, mit deren Hilfe sie in Zellen oder Gewebe des Wirts eindringen oder sich dem Zugriff des Immunsystems entziehen. ENABLE-Sprecher Prof. Ivan Đikić vom Institut für Biochemie II der Goethe-Universität erläutert: „Um wirksame Medikamente etwa gegen Antibiotika-resistente Bakterien oder neue Viren wie SARS-CoV-2 entwickeln zu können, müssen wir besser verstehen, wie Bakterien oder Viren Schäden in Zellen und Geweben verursachen und wie die Entzündungs- und Immunantwort des Wirts ausfällt.“

Entzündungsreaktionen schließlich stehen im Fokus des dritten ENABLE- Themenblocks. Klassischerweise wurden Entzündungen lediglich als Schutzreaktion des Körpers gegenüber Verletzungen und eindringenden Keimen betrachtet: Beschädigte oder von Viren befallene Zellen senden Signalstoffe aus, die in Kaskaden sowohl Zellen des Immunsystems anlocken und aktivieren wie auch molekulare Verteidigungsmechanismen in Gang setzen. Prof. Maike Windbergs sagt: „Heute wissen wir, dass Entzündungen und die entsprechenden Antworten des Immunsystems auch komplexe Krankheiten wie Krebs, Herzerkrankungen und Morbus Alzheimer verursachen und befördern können. Durch ein besseres Verständnis davon, wie Entzündungen auf zellulärer und molekularer Ebene entstehen, sich entwickeln und vom Körper beendet werden, werden wir die Basis für die Entwicklung von neuen Entzündungstherapien legen. Künftig, so unser Ziel, soll die Entzündungstherapie stärker auf den individuellen Patienten zugeschnitten werden können.“

Alle drei ENABLE-Projekte, Homöostase, Infektionen und Entzündungen würden über die zellulären Signalketten ineinandergreifen, so Đikić: „Daher arbeiten wir interdisziplinär zusammen und setzen modernste Technologien sowie neue chemische und biologische Tools ein, die es uns erlauben, zelluläre Funktionen mit bislang ungekannter Präzision zu analysieren.“

http://www.enable-frankfurt.de/en

VERTRAUEN IM KONFLIKT, NEUTRONENSTERNE UND KRANKHEITSMECHANISMEN

Welche Möglichkeiten bieten gesellschaftliche Konflikte, um Vertrauen zu schaffen? Was passiert, wenn Neutronensterne miteinander verschmelzen und dabei Gravitationswellen und schwere chemische Elemente produzieren? Wie können neuartige Medikamente für Entzündungen und Infektionen entwickelt werden, wenn man das innere Gleichgewicht von Zellen (Homöostase) besser versteht? Forscher*innen der Goethe-Universität gehen diesen Fragen in den kommenden Jahren gemeinsam mit Partnern anderer Universitäten und wissenschaftlicher Einrichtungen nach. Die Clusterprojekte ENABLE, ELEMENTS und ConTrust werden mit 20,7 Millionen Euro vom Land Hessen und in gleicher Höhe von der Goethe-Universität und den beteiligten Partnern gefördert und ermöglichen die Vorbereitung auf die nächste Exzellenzstrategie von Bund und Ländern.

Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 3/2021 (PDF) des UniReport erschienen.

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