»Recht erzählen« ist erst nach seinem Tode erschienen: David von Mayenburg hat das letzte Buch von Michael Stolleis für den UniReport gelesen.
Michael Stolleis, der Frankfurter Rechtshistoriker und langjährige Mitdirektor des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte (jetzt: für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie), ist am 18. März 2021 im Alter von 79 Jahren gestorben. Soeben ist sein letztes Buch erschienen, das er erst wenige Wochen vor seinem Tod beim Verlag einreichte. Anders als in seinem Hauptwerk zur Geschichte des öffentlichen Rechts, das die großen Linien der Staatsrechtswissenschaft zieht, versammelt Stolleis hier acht kleinere Beiträge, die sich mit der Rechtsgeschichte seiner pfälzischen Heimat zwischen 1650 und 1850 beschäftigen.
Von Quellen geleitet
Die Einleitung greift das Wortspiel des Titels auf und stellt sehr grundsätzlich die Frage: Wie lassen sich Recht und vor allem Rechtsgeschichte erzählen? Geht es darum, historisches Beweismaterial für eine vorangestellte Theorie zu präsentieren oder eher darum, aus den empirisch vorgefundenen Quellen der Vergangenheit Schlüsse zu ziehen? Stolleis möchte die Entscheidung nicht prinzipiell treffen, sondern gibt darauf eine persönliche Antwort: Mit zunehmendem Alter wendeten sich die Historiker meist vom Glauben an die Leistungsfähigkeit ihrer Theorien ab und ließen sich eher von ihren Quellen leiten. So auch er selbst. Man sieht dieser transparent und gut lesbar geschriebenen Einleitung an keiner Stelle an, dass in jedem Satz jahrzehntelange Lektürearbeit und die Reflexion über zahllose Methodendiskussionen verarbeitet werden. Diese Einleitung ist ein Text, den fortan jede Doktorandin und jeder Doktorand als Pflichtlektüre mit auf den Weg nehmen sollte.
Die kunstvoll aufeinander abgestimmte Serie rechtshistorischer Miniaturen belegt eindrucksvoll die Leistungskraft des von Stolleis gewählten Erzählstils. Sie beginnt mit einer bei aller Faktendichte gut lesbaren Skizze der Pfälzischen Geschichte im 16. und 17. Jahrhundert. Es wird deutlich, dass die ungünstige territoriale und dynastische Lage dieser Landschaft im Kontext der europäischen Staatenbildung nicht nur die herrschenden Häuser massiv herausforderte, sondern vor allem auch zu unendlichem Leid der Untertanen führte. Sie hatten fortwährend unter der Gewalt durchziehender Soldaten, drückenden Steuern und Kontributionen, Krankheiten und anderen Plagen zu leiden. Nur selten versuchten umsichtige Herrscher wie Kurfürst Karl I. Ludwig (1617–1680), politisch vorausschauend die Lebensverhältnisse ihrer Untertanen zu verbessern. Doch Karl Ludwig geriet durch sein Privatleben in Schwierigkeiten: Nachdem seine Ehe mit Charlotte, einer geborenen Prinzessin von Hessen-Kassel gescheitert war, nahm er sich, ohne dass zuvor ein Scheidungsverfahren durchgeführt wurde, das Hoffräulein Louise von Degenfeld zur Frau. Seine Gegner sahen darin – nicht ohne eine gewisse gemeinrechtliche Berechtigung – eine verbotene Doppelehe. Stolleis zeigt, wie der Kurfürst sich in dieser Situation der Dienste des aufstrebenden Juristen Johann Friedrich Boeckelmann bediente, der zugunsten des Kurfürsten argumentierte und dafür mit einer glänzenden akademischen Karriere belohnt wurde.
Ein typischer Jurist des 17. Jahrhunderts
Der zweite, mit über 80 Seiten umfangreichste Beitrag ist der einzige Text, der eigens für diesen Band geschrieben wurde. Er zeichnet das Leben des im hessischen Butzbach geborenen Juristen Johann Theodor Sprenger (1630 –1681) nach. Akribisch wird das Leben eines bürgerlichen Juristensohns aus der Provinz rekonstruiert, der sich durch Begabung, Fleiß und Ehrgeiz eine beachtliche Karriere erarbeitete. Nach der Heirat mit einer Frankfurter Patriziertochter diente er verschiedenen Herrschern und brachte es zunächst zum hessischen und sächsisch-magdeburgischen Hofrat. Sein Ziel war allerdings stets, in Reichsdienste zu treten. Nachdem er zum katholischen Glauben konvertiert war, gelang es ihm immerhin, zum salzburgisch-erzbischöflichen Hofkanzler aufzusteigen. Mit Sprenger rückt Stolleis ganz bewusst einen Praktiker- Staatsrechtler aus der „zweiten Reihe“ in den Mittelpunkt. Die Quellen erlauben zwar keine nähere Betrachtung der Persönlichkeit Sprengers, seines Innenlebens, wie Stolleis im Epilog des Kapitels betont. Doch bereits die äußere Geschichte seiner Karriere öffnet den Blick auf einen typischen Juristen seiner Zeit und eine Berufsgruppe, die durch Fleiß und Kompetenz das Räderwerk des frühneuzeitlichen Staats in Gang brachte und am Laufen hielt. Dieses Räderwerk hatte den Untertanen allerdings nicht nur Wohltaten zu bieten: Mit seiner Unterschrift besiegelte Sprenger auch das Schicksal von Menschen, die Opfer von Hexenprozessen oder der Salzburger Protestantenverfolgungen geworden waren. Das Recht erscheint im Lebenswerk Sprengers einmal mehr als ambivalentes Instrument, das zum Wohl der Menschen eingesetzt werden kann, um ihnen Frieden und Ruhe zu bieten, aber auch als Waffe zu deren Verfolgung und Vernichtung.
Im folgenden Kapitel erzählt Stolleis die Geschichte der im pfälzischen Erbfolgekrieg aus Mannheim vertriebenen Wallonen und Pfälzer, die schließlich in Magdeburg eine neue Heimat fanden. Sehr detailreich schildert er sowohl die dramatischen Ereignisse der Vertreibung als auch die in klare Regelungen gegossene, wirtschaftlich und politisch weitsichtige Ansiedlung der Flüchtlinge in ihrer neuen Heimat. Auch hier verliert Stolleis‘ präzise Schilderung der rechtlichen Details die Perspektive der betroffenen Menschen nicht aus dem Auge. Das Recht konnte für sie einen Schutzraum bieten in einer Welt, in der die Regierenden die Religionskonflikte des konfessionellen Zeitalters zu beenden suchten. Dieselben Fürsten nutzen allerdings das Recht auch als Instrument einer neuen Strategie der territorialen Abschottung und beschworen damit die bis heute fatalen Gespenster einer auf „Identität“ gegründeten Politik herauf.
Ein weiteres Kapitel, das sich mit Bettlern, Vaganten, Gauklern und anderen Randgruppen beschäftigt, zeigt, was diese Abschottungspolitik für die Betroffenen bedeutete: Seit Beginn der Neuzeit wurden „Fremde“ und andere Personen, die vom Idealbild eines „guten Untertanen“ abwichen, mit Hilfe einer Flut von Gesetzen, Mandaten und Policeyordnungen ausgegrenzt, verfolgt und hinter die neu geschaffenen Staatsgrenzen abgeschoben. Erst mit der Aufklärung setzte sich langsam die Erkenntnis durch, dass soziale Probleme nicht privaten Almosen überlassen werden durften, sondern des fürsorglichen Arms des Staates bedurften.
Geschichte eines Maulbeerbaums
Ein über 200 Jahre alter Maulbeerbaum im Hof des elterlichen Anwesens war für Michael Stolleis der Anlass, der Geschichte dieses Baumes und damit den pfälzischen Privilegien zum Seidenanbau nachzugehen, als deren Folge der Maulbeerbaum wohl gepflanzt wurde. Auch hier fördert erst ein akribisches Quellenstudium die Fakten und Zusammenhänge hervor, die dann als Zutaten für eine spannende Geschichte und eine Stellungnahme im Streit um den Merkantilismus verwendet werden können. Die folgende Erzählung führt in eine ganz andere Kulisse, nämlich in die Pfalz des Vormärz. Stolleis rekonstruiert die Hintergründe eines Gutachtens, das der Heidelberger Rechtsgermanist Heinrich Zöpfl in einem Revisionsverfahren zugunsten des Jurastudenten Heinrich Kaehler verfasst hatte. Dieser war wegen Hochverrats verurteilt worden, weil er in einem Zeitungsartikel allzu deutlich zu Aktionen gegen den „meineidigen“ Großherzog von Baden aufgerufen hatte.
Deutlich gewalttätiger verlief die Episode, die im Verlauf des Pfälzischen Aufstands von 1849 zunächst zu einem Scharmützel in dem Ort Steinfeld und dann zur Verurteilung der beteiligten Aufständischen durch die bayerische Justiz führte. Stolleis zeigt, wie ein unversöhnlicher Staatsanwalt zur „Ausrottung“ des Widerstands aufrief und die Verurteilten ins Gefängnis abgeführt wurden. Es war dann nicht das Recht, sondern ein Politikwechsel in München, der zur scheinbaren Versöhnung und zur Freilassung der Aufständischen im Wege von Gnadenerlass und Amnestie führte. Nur sehr beiläufig wird der Anlass deutlich, warum Stolleis gerade diese Episode auswählte: Einer der Aufständischen war sein Vorfahr Georg Stolleis.
Der abschließende Beitrag thematisiert, wie bereits der erste, eine pfälzische Eheschließung und schließt damit den erzählerischen Kreis. Die Verwicklungen um das alte Haus Leiningen begannen mit einem als Mesalliance verpönten Eheschluss, als Graf Karl Theodor Ernst zu Leiningen-Neudenau 1869 in London die Tochter eines Mannheimer Eisenbahnschaffners heiratete. Das in der Folge durch den bereits erwähnten Juristen Zöpfl verfasste Hausgesetz der Familie Leiningen, das den Verlust aller Rechte im Falle einer nicht standesgemäßen Ehe vorsah, beschäftigte die Juristen und Gerichte bis ins 21. Jahrhundert, ein Vorgang, den Stolleis als „eine Art Satyrspiel“ nur mit Kopfschütteln kommentieren möchte.
Persönliches Buch
Michael Stolleis‘ letztes Buch stellt wie in einem kunstvollen Gewebe ganz unterschiedliche Verbindungslinien her: zwischen der großen Politik und dem kleinen Mann, zwischen den Welten des Rechts und der Politik, zwischen der privaten Welt und der öffentlichen, zwischen der Macht und der Ohnmacht des Einzelnen. Ohne einer Autobiographie auch nur zu ähneln, ist es gleichzeitig ein sehr persönliches Buch und man spürt, dass es ihm ein Herzensanliegen war. Dabei spielt nur vordergründig eine Rolle, dass es um Stolleis‘ Heimat geht und hin und wieder Personen aus seiner Familie auftreten. Persönlich ist das Buch vor allem deshalb, weil es sich bei aller Begeisterung für die rechtlichen Details zuerst immer für das Schicksal der Menschen interessiert und deren Perspektiven Raum gibt. In meisterhafter Erzählkunst, klarer, analytischer und nie gefühliger oder gar kitschiger Sprache weckt Stolleis das Interesse und Mitgefühl des Lesers für die Pfälzerinnen und Pfälzer. Dort, wo die Worte des Wissenschaftlers nicht ausreichen, verwendet er die Sprache der Literatur. Wie ist Recht richtig zu erzählen? Auf den Stoßseufzer von Saša Stanišić „Die Möglichkeiten, eine Geschichte zu erzählen, sind quasi unendlich. Da triff mal die beste“ (S. 9), möchte man antworten, dass Stolleis mit seinem Buch diesem Ziel der besten Erzählung sehr nahegekommen ist. Mit Michael Stolleis hat nicht nur die deutschsprachige Rechtsgeschichte einen ihrer bedeutendsten und charismatischsten Köpfe verloren, sondern die deutsche Wissenschaft insgesamt einen ihrer wohl begabtesten Erzähler.
David von Mayenburg ist Professor für Neuere Rechtsgeschichte, Geschichte des Kirchenrechts und Zivilrecht an der Goethe-Universität.
Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 5/2021 (PDF) des UniReport erschienen.