Erfahrungsgesättigte Einschätzungen aus der Virologie und der Medizin
UniReport: Herr Dr. Stürmer, Sie sind als Virologe selber an Covid-19 erkrankt. Wie wurden Sie infiziert, welche Erfahrungen haben Sie mit der Krankheit gemacht? Sind Sie heute komplett genesen?
Dr. Martin Stürmer: Ich habe mich beim Skifahren in Tirol infiziert, allerdings weder in Ischgl noch beim Après-Ski, was zeigt, dass man sich auch ohne nennenswertes Risiko infizieren kann. Als ich meinen positiven Befund bekommen habe, war es initial ein gutes Gefühl zu wissen, dass man es bald hinter sich hat. Ich hatte letztendlich auch einen milden Verlauf, meine Symptome waren am Anfang starke Rückenschmerzen, beginnend in der Nierengegend, anschließend aufsteigend bis zur Körpermitte. Zu dieser Zeit allerdings kamen die Gedanken, ob nicht doch die Lunge betroffen sein könnte, und in dieser Phase empfand ich die Situation als die schlimmste Erkältungskrankheit, an die ich mich erinnern konnte. Die Schmerzen haben sich dann aber doch relativ schnell gebessert, allerdings habe ich dann den Geruchs- und Geschmackssinn komplett verloren. Insgesamt sind alle Symptome verschwunden, allerdings habe ich das subjektive Gefühl, dass vor allem mein Geschmack nicht mehr so ist wie vor der Infektion.
UniReport: Herr Prof. Stephan, als Mediziner haben Sie auch mit der Behandlung von Covid-19-Patienten zu tun. Tauchen solche Krankheitsverläufe, wie sie Herr Stürmer erfahren musste, öfter auf?
Prof. Dr. Christoph Stephan: Der Krankheitsverlauf von Martin Stürmer verbildlicht die enorme Varianz des klinischen Krankheitsbildes von Covid-19. Eine Atemwegssymptomatik stand hier ja offenbar überhaupt nicht im Vordergrund! Es könnte sein, dass viele Kranke Kontakt zum Gesundheitswesen hatten, ohne dass hier eine Viruserkrankung überhaupt erwogen wurde. In der Klinik sehen wir eher schlimmere Krankheitsverläufe, Grund für die stationäre Therapie ist oft Luftnot und der Bedarf auf Sauerstofftherapie bis hin zur Beatmung, Fieber oder Thrombosen mit Komplikationen, wie z.B. Lungenembolien. Die Fälle in der Klinik scheinen ja aber nur die „Spitze des Eisbergs“ abzubilden, das heißt, es scheint viele wenig symptomatische Fälle zu geben. Die tatsächliche Belastung der Gesellschaft durch SARS-Coronavirus-2 ist heute unbekannt, weil die entsprechenden Untersuchungsmethoden, insbesondere eine Serologie-Testung, die die wahre Abschätzung von stattgehabten Infektionen in Bezug zur Bevölkerung und den symptomatisch Kranken erlauben würde, erst im Aufbau ist. Serologien sind Gegenstand von epidemiologischen Studien, z.B. der „Heinsbergstudie“ von der Universität Bonn. Allerdings hatten wir einen vergleichbaren Infektions-Hotspot in Hessen nie.
Viele gehen davon aus, dass eigentlich nur ältere oder kranke Menschen daran erkranken oder sterben, vergleichen Covid-19 mit einer Grippe. Wird die Gefahr, die von Covid-19 ausgeht, insgesamt unterschätzt? Würden Sie sich noch mehr medizinische Aufklärung wünschen?
Stephan: Eine Infektion, die in einem Großteil der Betroffenen ohne klinisch fassbare Symptome abläuft, aber dennoch übertragen wird und den nächsten Infizierten an die Beatmungsmaschine oder dem Tod nahebringt, darf hinsichtlich der Gefährlichkeit nicht unterschätzt werden, noch dazu bei einer solch hohen Übertragbarkeit wie im Falle von SARS-CoV-2. Da uns momentan nur der Direktnachweis bei aktiv Infizierten zur Verfügung steht, um die aktive Infektion festzustellen, sollte dieser Test großzügig auch bei milder Symptomatik angewandt werden, um Gefahren in der zweiten und dritten Generation der Virusinfektion abzuwenden.
Wer Covid-19 mit einer Grippe gleichsetzt, bagatellisiert die Erkrankung! Ich kann mich in meiner Laufbahn nicht erinnern, dass jemals in der Grippesaison eine 32-Betten-Intensivstation einer Universitätsklinik voll belegt war, mit beatmeten Patientinnen und Patienten mit derselben Virusinfektion, so wie das im April am Universitätsklinikum Frankfurt der Fall war. Und Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen waren noch mehr betroffen als Hessen. Außerdem wissen wir noch zu wenig über alternative Organmanifestationen und Langzeitfolgen von Covid-19 – hier werden noch einige Überraschungen folgen, wie z. B. das jüngste Beispiel des Kawasaki- Syndrom-ähnlichen Krankheitsbilds bei Kindern in New York und anderswo nahelegt.
Medizinische Aufklärung über die Prävention dieses Krankheitsbildes genügt allein aber nicht, sondern wir brauchen daneben die intensive gesellschaftliche Diskussion, um die Akzeptanz für Maßnahmen zu erreichen und nicht den Anschein einer „Diktatur der Virologen“ zu erzeugen.
Die Gesellschaft wird noch länger mit bestimmten Einschränkungen zu leben haben. Viele hoffen daher natürlich auf die schnelle Entwicklung eines Medikaments und eines Impfstoffes. Ist damit bald zu rechnen, von welchem Zeitraum muss man ausgehen? Und wie schätzen Sie bis dahin die Möglichkeit von Veranstaltungen ein, bei denen viele Menschen beengt aufeinander treffen (Kneipe, Club, Fußball etc.)?
Stürmer: Diverse Medikamente zur Behandlung von SARS-CoV-2 befinden sich in der klinischen Prüfung. Im Fall von Remdesivir gibt es in den USA auch schon eine Zulassung, in Europa empfiehlt die Europäische Arzneimittel-Agentur einen breiteren Einsatz von Remdesivir im Rahmen eines „Compassionate Use“ (Härtefallprogramm). Auch Impfstoffe befinden sich derzeit in klinischen Studien, allerdings befinden sich diese erst am Anfang. Daher ist hier vermutlich nicht vor Anfang 2021 mit einer Zulassung zu rechnen. Ich gehe daher davon aus, dass Massenveranstaltungen wie Konzerte und Fußballspiele mit vollen Stadien weiterhin nicht stattfinden werden.
Stephan: Und doch müssen zusätzlich Mittel und Wege gefunden werden, um Individualsport (z. B. im Fitnessstudio oder im Verein), Kunst und Kulturleben wieder zu ermöglichen. Dazu braucht es intelligente Maßnahmen, die die Lehren aus dem steigenden Wissen zur Prävention dieser Erkrankung ziehen und zielgerichtet umsetzen.
Christoph Stephan ist außerplanmäßiger Professor für Innere Medizin an der Goethe-Universität Frankfurt und arbeitet als Oberarzt in der Infektiologie am Universitätsklinikum. Dort leitet er die HIV-Ambulanz und das infektiologische Studienzentrum. Seit fast 22 Jahren behandelt er erfolgreich Patientinnen und Patienten mit HIV/ AIDS, Tuberkulose, Malaria, aber auch SARS- und Ebola-Virus. Schon ab Januar 2020, als die ersten Fälle mit Covid-19 über den Flughafen Frankfurt erreichten, sammelte er mit seinem Team Erfahrungen zu dieser neuen Erkrankung.
Martin Stürmer ist Laborleiter im IMD Labor Frankfurt, davor war er Wissenschaftlicher Angestellter im Institut für Medizinische Virologie und Wissenschaftlicher Angestellter im HIV-Center des Universitätsklinikum Frankfurt; er ist Privatdozent und Lehrbeauftragter für Virologie und war vor 18 Jahren auch an der Entdeckung und Bekämpfung des damaligen SARS-Virus beteiligt.
Dieser Artikel ist in der Ausgabe 3.20 des UniReport erschienen.