Wie das Gehirn Prognosen trifft

Prof. Yee Lee Shing ist neuerdings Professorin für Entwicklungspsychologie an der Goethe-Universität. Sie brachte einen ERC Starting Grant zur Erforschung des Vorhersage-Gedächtnisses mit nach Frankfurt. (Foto: Uwe Dettmar)

ERC Starting Grant für die Erforschung des voraussagenden Gedächtnisses im Verlauf des Lebens.

Die Goethe-Universität hat ein weiteres EU-gefördertes Forschungsprojekt in ihren Reihen: Mit der Berufung von Yee Lee Shing auf die Professur für Entwicklungspsychologie ist auch ihr Forschungsvorhaben PIVOTAL nach Frankfurt gekommen. Prof. Shing erforscht, auf welchen Grundlagen das Gehirn Voraussagen trifft.

Man stelle sich vor, man kommt morgens in sein Büro. Innerhalb eines Augenblicks kann man beurteilen, ob alles an seinem gewohnten Platz ist – Möbel, Computer, Akten – oder eben nicht. Ob zum Beispiel etwas auf dem Schreibtisch abgelegt wurde, das da nicht hingehört, eine Schachtel Pralinen etwa. Dieser Urteilsfähigkeit liegt das „predictive brain“ zugrunde, also das Zusammenspiel von Hirnfunktionen, die zu Vorhersagen führen. Auf welchen Gesetzmäßigkeiten diese Vorhersagen beruhen und wie sich das Zusammenspiel der beteiligten Prozesse im Lauf des Lebens verändert, darüber forscht Prof. Yee Lee Shing, die seit Januar die Professur für Entwicklungspsychologie an der Goethe-Universität innehat.

Das Gehirn sei eine „Vorhersagemaschine“, die andauernd damit beschäftigt sei, neuen Input mit Vorhersagen abzugleichen, erklärt Shing. Nur so vermag sich das menschliche Gehirn an immer neue Situationen anzupassen und in neuen Umgebungen zurechtzukommen. Bislang sei jedoch weder erforscht, wie die zugrundeliegenden inneren Modelle selbst beschaffen sind, noch, wie sich neue Erfahrungen auf diese Modelle auswirken. Unbekannt ist auch, wie ein solches universell gültiges Prinzip in verschiedenen Gehirnen – zum Beispiel jungen oder älteren – ausgeprägt ist. Das in diesem Kontext wesentliche Langzeitgedächtnis setzt sich zusammen aus dem episodischen und dem semantischen Gedächtnis, persönlich Erfahrenes einerseits und erlerntes Weltwissen andererseits. Während Kinder Episodisches besser behalten können – man denke an die unbesiegbaren Kleinen beim Memoryspiel –, können ältere Menschen sich eher auf ihr semantisches Gedächtnis berufen.

Das Zusammenspiel der verschiedenen Arten von Gedächtnis und neuer Erfahrungen will Shing empirisch untersuchen. Mit Hilfe der Magnet-Resonanz-Technik im Brain Imaging Center der Goethe-Universität will sie mehr darüber herausfinden, welche kognitiven und neuronalen Interaktionen wo im Gehirn stattfinden – zunächst mit Hilfe gesunder Probanden unterschiedlichen Alters. Langfristig könnte ihre Forschung auch dazu beitragen, Licht in bislang noch immer nicht ganz erforschte psychische Erkrankungen wie Autismus und Schizophrenie zu bringen. Der European Research Council (ERC) fördert das Projekt für fünf Jahre mit 1,5 Millionen Euro. Damit werden zwei Postdoc- und zwei Doktorandenstellen ermöglicht.

1980 in Kuala Lumpur (Malaysia) geboren, ging Yee Lee Shing mit 19 Jahren zum Psychologie-Studium in die USA. 2004 bis 2015 arbeitete sie am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. An der Humboldt-Universität hatte sie ein Humboldt-Fellowship inne. „Die sehr breit aufgestellte Perspektive auf die Entwicklung des menschlichen Gehirns im Verlauf des Lebens war für mich sehr interessant. Außerdem bot mir die neue International Max Planck Research School on the Life Course (LIFE) einen interdisziplinären und transatlantischen Forschungskontext“, begründet sie heute, warum sie damals nach Deutschland kam. Shing wurde während ihrer Promotion von Profs. Ulman Lindenberger und Shu-Chen Li betreut. Von 2015 an war Shing Dozentin an der University of Stirling in Schottland.

Bei der Beantragung ihres Vorhabens war Prof. Shing noch in Stirling beschäftigt. Dass sie sich zur Rückkehr nach Deutschland entschloss und den Ruf nach Frankfurt annahm, habe auch mit dem Brexit zu tun gehabt: „Mein Mann und meine beiden Kinder sind Deutsche. Wir haben unsere Zukunft in Großbritannien als unsicher empfunden. Nach so vielen Jahren in Europa wollte ich nicht außerhalb der EU leben“, so die Psychologin. Zudem freue sie sich auf ein fruchtbares Arbeitsumfeld am Fachbereich Psychologie.

Quelle: Pressemitteilung vom 22. Februar 2018

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