»Wir sollten uns daran erinnern, wer hier der Souverän sein sollte«

Prof. Dr. Ulrike Guérot leitet an der Donau-Universität Krems (Österreich) das Department für Europapolitik und Demokratieforschung; Foto: Judith Affolter

Das internationale Programm Alfred-Grosser-Gastprofessur für Bürgergesellschaftsforschung wurde 2009 auf Anregung der Deutsch-Französischen Gesellschaft eingerichtet. Es ist am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität angesiedelt und wird durch eine Förderung der Stiftung Polytechnische Gesellschaft Frankfurt am Main ermöglicht.

Frau Prof. Guérot, in Katalonien scheinen die Bemühungen der Separatisten um eine eigene Nation zuerst einmal ans Ende gekommen zu sein. Wie betrachten Sie die Debatte – auch unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten?

Das ist in der Tat eine große Debatte. Der Historiker Heinrich August Winkler hat mich und Robert Menasse dazu kürzlich scharf im SPIEGEL angegriffen, weil wir in der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung etwas Positives sehen. Ich betrachte den Konflikt in Katalonien aber nicht isoliert, sondern im Kontext einer gesamteuropäischen Krise: Europa wird von verschiedenen Seiten angegriffen und in Frage gestellt, nicht nur durch die Krise in Katalonien, sondern auch durch den Brexit, den Grexit oder vor allem auch die Flüchtlingskrise. Offensichtlich liegt die große Frage auf dem Tisch: Wer entscheidet in Europa? Ich sehe eine geradezu historische Energie für einen Wandel. Ich würde dafür plädieren, dass man sich diese regionalen Phänomene mal anders anschaut als unter dem Sezessionismus-Vorwurf. Wir sollten uns daran erinnern, wer hier der Souverän sein sollte – nämlich der Bürger. So könnten wir mal über andere konstitutionelle Einheiten, z. B. Regionen, nachdenken. Das sind übrigens keine neuen Fragen. Wie die Katalonien-Krise gerade geframed wird, also als Entweder-Oder von Verbleib oder Austritt aus Spanien, halte ich für zu kurz gedacht.

Das heißt, Sie sehen durchaus in dem, was in Katalonien entstanden ist, ein neues Bedürfnis für Partizipation und Demokratie?

Stefan Zweig hat ja mal gesagt: „Den Zeitgenossen bleibt es verwehrt, die historische Bewegung zu sehen, in der sie stecken.“ Das ist so, wir sehen etwas und bezeichnen es als Krise. Wir sehen gerade viele Dinge, wissen aber nicht, was daraus entsteht. Welchen Platz können Regionen in Europa haben, was ist überhaupt der „Nationalstaat“? Hätten sich die Saarländer 1955 nicht dafür entschieden, Teil der Bundesrepublik zu werden, sondern unabhängig zu werden, dann wäre es heute ein zweites Luxemburg, also ein Nationalstaat. Das soll heißen: Was eine Nation ist, ist doch historisch kontingent und ändert sich fortlaufend. Vor diesem Hintergrund sollte man nochmal darüber nachdenken: Wie sind wir förmlich zusammengewürfelt, wie können wir das nochmal aufdröseln und zwar so, dass es Sinn macht? Der Historiker Theodor Schieder hat schon 1963 gesagt: Eine Nation ist eine Staatsbürgergemeinschaft, nicht Volk, nicht Ethnie und nicht Sprachgemeinschaft! Eine Nation sind diejenigen, die sich in eine Gemeinschaft begeben und einwilligen, dass sie gleich sind vor dem Recht. Ein hilfreiches Zitat für die institutionelle Neuordnung des europäischen Kontinents!

Sie haben sich in verschiedenen Kontexten für die „Überwindung der Nationalstaaten“ ausgesprochen. Doch selbst in Deutschland sehen sich euroskeptische Positionen gestärkt. Oder täuscht der Eindruck, sehen Sie auch gute Entwicklungen?

Ich habe die „Überwindung der Nationalstaaten“ nicht ins Gespräch gebracht, als ob das (m)eine neue Erfindung wäre. Ich habe lediglich daran erinnert, dass die Überwindung der nationalen Verfasstheit stets das Ziel der europäischen Integration gewesen ist. Wenn Sie beispielsweise bei Walter Hallstein oder Jean Monnet nachlesen, dann werden Sie sehr schnell sehen, dass Europa immer auch jenseits von Nationalstaaten gedacht wurde, übrigens gerade von jenen, die in den 1930er/1940er Jahren die konzeptuellen Vorarbeiten für die EU geleistet haben. Damit die großen Länder nicht ständig die kleinen Länder unterdrücken, muss dafür Sorge getragen werden, dass die Bürger Europas jenseits von Nationen gleich vor dem Recht sind. Daran zu erinnern – das war mein Ziel!

Glauben Sie, dass in den nächsten Jahren die Chance besteht, etwas von Ihren Visionen umzusetzen?

Absolut glaube ich das. Ich habe in den letzten zwei Jahren ganz Deutschland bereist, um die Idee einer europäischen Republik zu verbreiten und habe dabei große Zustimmung erfahren. Die Argumente dafür werden sich, da bin ich ganz sicher, durchsetzen. Systeme, die marode sind, werden irgendwann zusammenkrachen, sagt die Systemtheorie. Als ich vor fünf Jahren angefangen habe, wurde ich noch ausgelacht, danach ignoriert, aber jetzt bekämpft.

Sie setzen viel Hoffnung in die Jugend Europas, auch in die Osteuropas?

Ja, immer mehr! Ich habe gerade mit polnischen Jugendlichen diskutiert. Es gibt natürlich nicht die Jugend. Es sind auch welche dabei, die Demokratie nicht gut finden, die so genannten Modernisierungsverlierer. Dagegen steht aber eine urbane aufgeklärte Jugend, die wie weiß, dass Demokratie und Freiheit gerade auf dem Spiel stehen. Denen Argumente an die Hand zu geben für eine Neugestaltung Europas – das ist mein Ziel! Wir haben bislang einen gemeinsamen Markt und eine gemeinsame Währung erreicht; schaffen wir das letzte Drittel, nämlich die Republik Europa, nicht, dann fallen die ersten beiden Errungenschaften auch weg.

Geraten Sie in ein gewisses Dilemma, gleichzeitig als Wissenschaftlerin und als Botschafterin einer Republik Europa zu agieren?

Auch wenn Heidegger zu zitieren nicht immer opportun ist: „Wissenschaft ist kein Denken“. Das kann man auch als Sozialwissenschaftlerin mal signalisieren: Früher war Wissenschaft Beobachtung, aus der man eine Theorie bildet und diese Theorie mit Beispielen aus der Realität erhärtet. So haben das jedenfalls die Großen des Faches wie Émile Durkheim oder Pierre Bourdieu getan. Die haben aber auch noch Gespräche mit echten Menschen geführt. Heute hingegen haben wir es zunehmend mit einer Wissenschaftskultur zu tun, in der man ohne Datensätze schon mal gar nichts sagen darf. Was für eine aggregierte Realität hat man aber, wenn man nur noch mit Daten redet und ansonsten nicht mehr vom Rechner wegkommt? Ich habe drei Monate am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) gearbeitet; ich fand dort vieles nicht überzeugend. Nehmen wir das Beispiel Frankreich: Wir haben dort momentan eine Arbeitslosigkeit von ca. 8,3 Prozent. Das ist nicht dramatisch. Daraus machen die Deutschen dann eine Art von Reformstau-Diskussion, nach der Frankreich sich reformieren müsse. Wenn man die Zahlen aber mal nach Regionen aufschlüsselt, dann sieht man, dass z. B. Städte wie Paris oder Lyon nahezu Vollbeschäftigung haben. In anderen Regionen hingegen gibt es keinen Reformstau, weil dort überhaupt nichts vorhanden ist, das man reformieren könnte. Das soll heißen, mit Zahlen allein kommt man nicht unbedingt zur echten Lösung. Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Ja, ich bin mir der Dichotomie meiner beiden Rollen bewusst. Ich habe einerseits eine analytische Komponente in mir, verfasse Peer-reviewed- Artikel für den wissenschaftlichen Kontext. Aber andererseits stelle ich mich als Wissenschaftlerin auch den Problemen dieser Welt. Ich bin nicht „unnormativ“, sondern habe einen Standpunkt. Ich beobachte gerade das Sterben der europäischen Demokratie und bin nicht stolz darauf, Argumente parat zu haben, warum das gerade passiert, sondern ich setze mich auch in der Realität dafür ein, dass dies nicht eintrifft.

Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron war gerade kürzlich in Frankfurt und hat auch die Goethe-Universität besucht. Sehen Sie in seinen letzten Reden eine Hoffnung für Europa?

Ich bin gerade in Warschau und habe einen polnischen Kollegen gefragt, ob er von den Macron-Reden etwas mitbekommen hat – nein, hat er nicht. Aber nicht nur in Polen, auch in Spanien, Italien und den Niederlanden gibt es jede Menge Aversionen gegen dieses deutsch-französische Tandem. Dabei sind die Reden Macrons vor allem ein Signal an Deutschland, denn das alte Tandem ist nicht mehr wie früher. Es ist aber philosophisch gesprochen eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für die Existenz Europas. Ich schätze Macrons Reden sehr, auch ein Jürgen Habermas hat sich kürzlich positiv geäußert. Wenn Macron von der „europäischen Souveränität“ spricht, dann ist das was ganz anderes, als nur Nationalstaaten zu integrieren. Man kann nur hoffen, dass Macrons Reden auch ein Echo finden. Die deutsche Nichtantwort darauf ist schwierig, hat natürlich gerade mit den Koalitionsverhandlungen zu tun. Die FDP sagt leider immer wieder: In einer nach Macron gestalteten EU müsse Deutschland für alles bezahlen. Macron ist meines Erachtens die letzte Karte, die wir noch haben.

Die Fragen stellte Dirk Frank

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Ihren Vortrag „Ein Kompass für Europa. Frankfurter Lieux de Mémoires und europäische Horizonte“ hält Ulrike Guérot im Rahmen der Grosser-Bürgervorlesung am Donnerstag, 25. Januar 2018, um 19 Uhr im Hörsaal 5, Hörsaalzentrum, Campus Westend.

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Dieser Artikel ist in der Ausgabe 6.17 (PDF-Download) des UniReport erschienen.

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