Fremde Lebenswelten kennenlernen

Über das FFM-Praxisprojekt haben sich Lehramtsstudentin Ines Peter (l.) und Shirin kennengelernt und angefreundet; Foto: Lecher
Über das FFM-Praxisprojekt haben sich Lehramtsstudentin Ines Peter (l.) und Shirin kennengelernt und angefreundet; Foto: Lecher

Sie kennen sich seit rund neun Monaten. Trotz des Altersunterschiedes von zehn Jahren hat sich zwischen Shirin (13) und Ines Peters (23) inzwischen so etwas wie eine Freundschaft entwickelt. Sie haben gemeinsame Hobbys entdeckt – beide tanzen und backen gerne. Kennengelernt haben sie sich über das FFM-Praxisprojekt. Darin fördern und begleiten Lehramtsstudierende und Studierende der Erziehungswissenschaften Schülerinnen und Schüler pädagogisch beim Übergang zur weiterführenden Schule und in die Arbeitswelt.

Auch die Alltagsbegleitung minderjähriger Flüchtlinge ist Teil des Projekts. Im aktuellen Schuljahr sind rund 50 Studierende an sieben Frankfurter Schulen im Einsatz. 15 von ihnen unterstützen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Ines Peters, Studentin der Erziehungswissenschaften an der Goethe- Universität, ist durch ein Seminar von Robert Bernhardt auf das Projekt aufmerksam geworden:

„Es klang für mich sehr interessant. Verschiedene Kulturen kennenzulernen macht mir besonders viel Spaß. Differenzen zu erkennen und damit umgehen lernen und selbst Verantwortung für andere Personen zu übernehmen – daraus, denke ich, kann ich was lernen“, antwortet die Studentin auf die Frage nach dem Grund für ihre Teilnahme am Projekt. Neben der Erfahrung erhält Peters mit dem Projekt auch Credit Points für ihr Studium.

Auch Shirin nützt es: „Das Projekt hilft mir besser Deutsch zu lernen.“ Peters nennt ein Beispiel: „Wenn wir gemeinsam Kekse backen und dabei Vokabeln lernen, hat das einen großen Effekt. Ich bin mir sicher, dass sie beim nächsten Mal immer noch weiß, was ein ‚Blech‘ oder ‚Backpulver‘ ist.“ Das zurückhaltende Mädchen mit den langen dunklen Haaren sprach kein Wort von unserer Sprache, als sie 2013 mit ihrer Mutter und einer ihrer Schwestern aus dem Iran nach Deutschland flüchtete. Das hat sich geändert.

Derzeit besucht sie die sechste Klasse der Carlo-Mierendorff-Schule und konnte inzwischen von der Intensivklasse in die Regelklasse wechseln. Doch das Projekt unterstützt die Schülerinnen und Schüler nicht nur beim Erlernen der Sprache: Zwei Mal pro Woche treffen sich Studierende und Schüler. Neben Nachhilfe in Deutsch oder Mathematik und der gezielten Vorbereitung auf Abschlussprüfungen steht die Alltagsbegleitung im Vordergrund. Die Studierenden sind Ansprechpartner bei persönlichen Problemen, beraten zu schulischen und beruflichen Perspektiven und stehen bei der Bewältigung und Strukturierung des Alltags zur Seite.

Das FFM-Praxisprojekt bietet zudem Raum für gemeinsame Freizeitaktivitäten. Peters betont jedoch auch die Schwierigkeiten dabei: „Es ist eine große Aufgabe, eine Beziehung zu einem Schüler herzustellen. Das ist nicht immer leicht.“ Berufspraxis üben Das Projekt ist an die Arbeitsstelle für Diversität und Unterrichtsentwicklung – Didaktische Werkstatt der Goethe-Universität angegliedert, eine Einrichtung des Fachbereichs Erziehungswissenschaften in Kooperation mit dem Hessischen Kultusministerium.

Die aktuellen Kooperationspartner sind das Aufnahme- und Beratungszentrum für Seiteneinsteiger (ABZ), eine Einrichtung des Staatlichen Schulamts für die Stadt Frankfurt, und mehrere Stiftungen, die das Projekt finanziell fördern. In diesem Jahr feiert es sein zehnjähriges Jubiläum. Robert Bernhardt, pädagogischer Leiter des FFM-Praxisprojekts an der Goethe-Universität, resümiert: „Uns ist es über die gesamte Zeit gelungen, mit unseren Partnern zusammen ein Projekt zu etablieren, was sichtbar geworden ist, was auch an der Universität einen Rang hat und immerhin in zehn Jahren an über 30 Schulen mit über 380 Studierenden auch einen gewissen Umfang erreicht hat.“

Die Intention des Projekt seitens der Universität sei es, eine Insel zu schaffen, wo Studierende lernen, was fremde Lebenswelten sind, und diese wertzuschätzen, so Bernhardt. Für den ehemaligen Förderschullehrer ergibt sich aus dem Projekt eine „Win-win-win-Situation“: Zum einen würden die Schüler von der individuellen Förderung profitieren, zum anderen erhielten die Schulen Unterstützung, die sie selbst nicht leisten könnten, und auch die Studierenden hätten einen Lerneffekt und würden auf die interkulturellen Herausforderungen ihres zukünftigen Berufsalltags vorbereitet.

Auch Ines Peters bereitet sich mit dem Projekt auf ihre berufliche Zukunft vor: „Mich interessiert der Bereich Differenzen, insbesondere Autismus.“ Aber auch im Bereich Flüchtlingsarbeit kann sich die Studentin vorstellen, später zu arbeiten. Doch nicht nur beruflich entwickelt sich Peters mit dem Projekt weiter, auch ihre persönliche Sicht auf die Dinge ändert sich: „Man bekommt eine Vorstellung davon, was andere mitmachen. Einem wird bewusst, dass wir hier sehr gut leben.“

Dass Kinder und Jugendliche ohne oder mit nur wenig deutschen Sprachkenntnissen den Weg in das deutsche Schulsystem finden, ist dem ABZ zu verdanken, das sie an geeignete Schulen mit speziellen Fördermöglichkeiten und Hilfsangeboten vermittelt. „Die jungen Migrantinnen und Migranten stehen vor großen Herausforderungen, wenn sie den Einstieg in das deutsche Bildungssystem finden wollen. Sie müssen sich nicht nur an ein fremdes Umfeld gewöhnen, sondern auch sprachliche Sicherheit gewinnen, um richtig anzukommen.

Besonders beim Übergang zu weiterführenden Schulen oder beim Einstieg in die Arbeitswelt ist eine intensive und individuelle Betreuung nötig“, sagt Rainer Götzelmann, Leiter des ABZ, zur Bedeutung des FFM-Praxisprojekts. Rund 600 Kinder und Jugendliche kommen jedes Jahr als „Seiteneinsteiger“ an Frankfurter Schulen. 25 bis 30 Prozent der Kinder sind Flüchtlinge. Die meisten von ihnen stammen aus Eritrea, Afghanistan, Äthiopien und Syrien. In den vergangenen zehn Jahren wurden über 1.000 Kinder und Jugendliche gefördert. So sehr Shirin das gemeinsame Tanzen mit Ines Peters auch mag, am liebsten möchte sie ihr Hobby in einer Tanzschule perfektionieren. Bei der Anmeldung zum Unterricht wird die Studentin ihr helfen.

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