Interview mit der Politologin Prof. Sandra Eckert zu den „Gelbwesten“ Frankreichs

Sandra Eckert, Politikwissenschaftlerin;Foto: privat

Frau Prof. Eckert, die „Gelbwesten“ werden als neuartige Bewegung wahrgenommen – sind sie das wirklich? Oder eher ein französisches Spezifikum?

Ich würde in der Tat nicht von einer neuartigen Bewegung sprechen, vielmehr von einer Form der sozialen Mobilisierung, die in dieser Qualität neu ist. Die sozialen Medien haben einen entscheidenden Beitrag zu ihrer Entstehung und vor allem ihrer Sichtbarkeit geleistet. Weiterhin sind die Gewaltbereitschaft und das Ablehnen von Dialog, zumindest von einem Teil der Mobilisierten, als Merkmale zu nennen.

Mit Bezug auf die Frage nach dem französischen Spezifikum ist im Vergleich zu Deutschland die Bereitschaft zur Mobilisierung und zum Protest, die in der französischen politischen Kultur verankert ist, zu nennen. Diese ist insbesondere auf die weniger stark ausgeprägten intermediären Strukturen wie etwa Gewerkschaften zurückzuführen, aber auch auf die Durchgriffsmacht des französischen Staates.

150.000 Protestierende wurden am Tag gezählt– belegt das die Bedeutung der Bewegung?

Ich würde die Größe der Bewegung nicht überbewerten wollen und auch ihre Bedeutung nicht mit der Zahl der Mobilisierten gleichsetzen. Entscheidend ist die Sichtbarkeit, da waren auch Aktionen im Spiel, die fürs Internet inszeniert wurden.

Handelt es sich um eine politische Bewegung, ist der Protest selbstzweckhaft?

Eine gute Frage! Die Bewegung ist auf jeden Fall von einer großen politischen Diversität geprägt. Laut einer jüngst publizierten Befragung von Demonstranten (auf der Basis von 166 Fragebogen) setzt sich die Bewegung mehrheitlich aus Vertretern der unteren Mittelschicht und der Arbeiterschaft zusammen, Eliten und Akademiker sind kaum vertreten. Politisch tauchen sehr unterschiedliche Meinungen aus dem rechten und linken Lager auf.

Bezeichnend ist sicherlich die Antihaltung zu Staat und Verbänden: mehr als 60 % der Befragten lehnen eine Repräsentation durch Gewerkschaften ab, über 80 % stellen die Legitimität von Parteien in Frage. Inhaltlich werden sehr unterschiedliche Forderungen laut. Daher ist es für die Politik sehr schwierig, eine adäquate Antwort auf den Protest zu formulieren. Die Regierung hat jetzt sozialpolitische Zugeständnisse gemacht, auch die Kaufkraft soll erhöht werden.

Für Macron dürfte es besonders bitter sein, dass er es mit einer Bewegung zu tun hat, die wie seine eigene Bewegung En Marche von der Straße kommt. Ist die Macht der Straße unberechenbar? Hat Macron bereits seinen Glamour eingebüßt?

Wir wissen, dass die Formierung der Bewegung En Marche, heute die Partei La République en Marche, nicht aus dem Nichts geformt wurde und sich auf existierende Netzwerke stützte. Insofern würde ich nicht von einer Bewegung sprechen, die von der Straße kommt. Und wenn Sie von Glamour sprechen: hier muss man sehen, dass die Darstellung Macrons in den deutschen Medien einigermaßen einseitig war, er wurde insgesamt viel zu euphorisch bewertet. Wenn man sich etwa anschaut, wie er gewählt wurde: Im ersten Wahlgang war er nur knapp vor Marie Le Pen.

Im zweiten Wahlgang war sein Vorsprung größer, aber man darf nicht vergessen, dass sich viele der Stimme enthalten oder ungültig gewählt haben. Im Parlament hat er eine recht stabile Mehrheit, aber das Mehrheitswahlrecht verfälscht die tatsächliche Zustimmung, die nicht so hoch ist. Die Protestierenden verorten sich, wie wir gesehen haben, nicht in der Mitte und sind somit vermutlich nicht Wähler von „La République en Marche“ gewesen. Es gab schon kurz nach der Wahl Macrons Prognosen, dass die Unzufriedenen sich Gehör verschaffen werden, und das sehen wir jetzt.

CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen hat behauptet, dass Frankreich nicht mehr „über ein funktionierendes Parteiensystem verfüge“. Würden Sie dem zustimmen?

Ich würde nicht so weit gehen. Dass sich die Mehrheiten im französischen Parlament geändert haben, gab es schon öfter. Es handelt sich aber durchaus um eine Destabilisierung des Parteiensystems, wenn eine ehemals starke Partei wie die Sozialisten von über 280 auf um die 30 Sitze im Parlament abstürzt. Viele wichtige Repräsentanten, die das politische Geschick der 5. Republik geprägt haben, sind von der Bildfläche verschwunden, das ist ein gewaltiger Einschnitt. Angesichts der von Macron angestoßenen Reformen ist die Situation im Augenblick schon eine Herausforderung für eine neue Partei wie La République en Marche.

Wir beobachten eine große Aggressivität gegenüber der Regierungselite und Macron. Destabilisierend wirkt die Bewegung aber nicht nur für die französische, sondern auch für die Europapolitik. Brüssel und Berlin sind ganz und gar nicht erfreut über den neuen Kurs der Regierung, Reformen zurückzunehmen und Zugeständnisse zu machen. Gerade in Deutschland tragen viele die Sorge, dass die französische Regierung nun wieder zu „schlechten Gewohnheiten“ zurückkehren könne – gemeint ist hier vor allem eine ausgabenorientierte Politik. Insbesondere die Regierung in Italien wartet förmlich darauf, dass Macron auf Haushaltskonsolidierung abzielende Reformen zurücknimmt. Das könnte für die Eurozone noch schwierig werden.

Wäre eine solche Massenmobilisierung auch bei uns vorstellbar?

Derzeit würde ich sagen: nein! Zum einen sind in Deutschland intermediäre Strukturen – wie beispielsweise starke und dialogorientierte Gewerkschaften, die unsere koordinierte Marktwirtschaft ausmachen- stärker, auch wenn ihre Bindungskraft nachgelassen hat. Auch die Parteienlandschaft ist in Deutschland noch stabiler. Zwar verzeichnet die SPD eine schwindende Wählerbindung, aber es handelt sich nicht um ein Abrutschen in die Bedeutungslosigkeit wie bei den französischen Sozialisten. Zum anderen ist die sozioökonomische Lage in Deutschland vergleichsweise besser und insgesamt so, dass es den meisten recht gut geht. Ein wachsendes Spannungsfeld sozialer Ungleichheit ist natürlich auch bei uns vorhanden, hier sind etwa die Stichworte Niedriglohnsektor und Wohnungsmarkt zu nennen. Insofern sage ich derzeit nein, aber das kann sich mittel- und langfristig ändern.

Tragen die Deutschen gar, wie manche Beobachter meinen, eine Mitschuld an Macrons Schwächung?

Nein, das sehe ich nicht, dies sind innenpolitische Dynamiken. Ich denke auch, dass die Ansicht, Deutschland müsste angesichts eines in Frankreich nicht mehr funktionierenden Parteiensystems Macron den Rücken stärken, ins Gegenteil umschlagen könnte. Der Eindruck, Macron sei ein von Deutschland abgesegneter Präsident, der von Berlin diktierte Reformen umsetzen soll, wäre fatal.

[Interview: Dr. Dirk Frank]

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