Putins Siegesparade: es hätte weitaus schlimmer kommen können (von Reinhard Wolf)

Russland feiert den Jahrestag des Sieges (9. Mai 2019). Foto: Anton Brehov/Shutterstock

Putins Rede zum Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland war seit Tagen mit Spannung erwartet worden. Schon vor Wochen hatten zahlreiche westliche Beobachter vermutet, Putin wolle an diesem Tag auch einen Sieg im Rahmen der „Spezialoperation“ verkünden oder zumindest wesentliche Teilerfolge. Doch die russischen Angriffe machten auch nach der Umgruppierung der Invasionsarmee wenig Fortschritte. So hatten sich zuletzt Befürchtungen gehäuft, der russische Präsident werde eine Eskalation ankündigen, beispielsweise eine Teilmobilmachung oder militärische Maßnahmen gegen den Westen, sollte dieser weiter Waffen liefern.

Gemessen an diesen Erwartungen fiel die kurze Ansprache beinahe moderat aus. Wie zu erwarten, enthielt sie die üblichen Ehrbezeugungen für die Gefallenen und Veteranen des „Großen Vaterländischen Krieges“ sowie die gewohnten Appelle an den Patriotismus der Russen, der gerade jetzt wieder besonders wichtig sei. In seinen Bemerkungen zur aktuellen Lage ging Putin kaum über bekannte Behauptungen hinaus: wenig überraschend stellte er den Krieg als Auseinandersetzung mit der heutigen Erscheinungsform der „Nazis“ dar, als aufgezwungenen Abwehrkampf gegen eine vom Westen aufgerüstete Ukraine sowie als militärische Selbstbehauptung eines stolzen, unabhängigen Russlands, das sich von den USA weder herumkommandieren noch anderweitig erniedrigen lässt.

Bemerkenswerter ist insofern, was Putin nicht in der Rede sagte. Zum einen kündigte er keine weitere Eskalation an. Weder drohte er dem Westen mit militärischen Gegenschlägen, noch sprach er von einer Intensivierung des russischen Angriffskrieges. Obwohl die russischen Invasionstruppen schon empfindliche Verluste erlitten haben, scheute er erneut davor zurück, eine Mobilisierung von Reservisten zu verfügen. Ebenso vermied er es, die ausgedehnten Kampfhandlungen auf die Stufe eines richtigen „Krieges“ zu heben.

Diese rhetorische Zurückhaltung war keineswegs selbstverständlich, wenn man die Ansprache mit den jüngsten Äußerungen anderer Offizieller vergleicht. Sowohl Außenminister Lawrow als auch der einflussreiche Sekretär des russischen Sicherheitsrates und langjährige FSB-Chef, Nikolai Patruschew, hatten zuletzt den Krieg und die Konfrontation mit dem Westen wesentlich härter, ja fast schon apokalyptisch beschrieben. Beide hatten Russlands Kampf als eine Auseinandersetzung beschrieben, in der es fast schon um alles geht, „um die Zukunft der Welt“ (Lawrow), die von einem „menschenverachtenden“ Amerika bedroht wird.

Lawrow hatte noch vor wenigen Tagen, anlässlich einer Kranzniederlegung zum Kriegsende, den Westen und insbesondere die USA nicht nur als Helfershelfer der „Nazis“ in der Ukraine und im Baltikum dargestellt, sondern auch als „rassistische“ Akteure, die den Hass auf Russland und alles Russische schüren und den Nazismus „auf jede erdenkliche Weise“ weißwaschen würden. Patruschew ging in einem beachteten Interview, das er am 26. April der Zeitung Rossiskaya Gazeta gab, noch weiter. Er stellte die USA als eine grausame Nation dar, die eigentlich schon immer „aggressiv und menschenfeindlich“ gewesen sei. Schließlich hätten die ersten Siedler die indianischen Ureinwohner ausgeraubt und ermordet. In den Jahrhunderten danach hätten die USA versucht, andere Zivilisationen auszulöschen, indem sie ihnen ihre eigenen Werte aufdrängten oder versucht hätten ihre Kultur von innen zu zersetzen. Laut Patruschew strebt der Westen eine drastische Verringerung der Weltbevölkerung an und natürlich auch die „Demütigung und Zerstörung Russlands und anderer unerwünschter Staaten“. Nicht einmal im Zweiten Weltkrieg hätten die USA eine ehrenvolle Rolle gespielt: Nicht genug damit, dass sie feindliche Städte massiv bombardiert und dabei Atomwaffen eingesetzt hätten. Patruschew gibt ihnen zumindest indirekt auch eine Mitschuld am Holocaust. Den Hinweis des Interviewers, Zyklon-B basiere auf einer westlichen Technologie, ergänzt er mit der Behauptung, die Ermordung der europäischen Juden sei auf Computern von IBM geplant worden, dessen Vorstandsvorsitzenden Hitler sogar einen Orden verliehen hätte.

Sowohl Lawrow als auch Patruschew beschreiben den aktuellen Konflikt somit als eine Auseinandersetzung, in der es nicht nur um die Ukraine, sondern um die Zukunft der Menschheit geht. In ihrer Darstellung wehrt sich ein bedrohtes Russland gegen ein arrogantes Amerika, das am liebsten die ganze Welt beherrschen möchte und keinerlei Skrupel kennt, wenn es darum geht, seine räuberischen Interessen und dekadenten Werte durchzusetzen. Solch eine Dämonisierung lässt eigentlich kaum noch Raum für Kompromisse und friedlichen Austausch. Wenn die USA immer schon rassistisch, grausam und verdorben waren, kann es aufrechten Russen eigentlich nur noch darum gehen, sie möglichst effektiv zu bekämpfen. Lawrows Ansprache und Patruschews Interview lesen sich deshalb wie ein Versuch, ihre Landsleute auf eine größere Auseinandersetzung vorzubereiten, auf einen Kampf Gut gegen Böse, in dem Russland zu großen Opfern bereit sein muss.

Vor diesem Hintergrund ist es eher beruhigend, dass Putin den 9. Mai nicht genutzt hat, um seine Mitbürger auf einen größeren Konflikt einzustimmen. Schließlich hätte sich die Erinnerung an den Sieg über das nationalsozialistische Deutschland in besonderem Maße dafür angeboten, die Bevölkerung dazu aufzurufen, sich ihrer früheren Helden würdig zu erweisen, indem sie erneut den Kampf gegen Feinde der Menschheit aufnimmt. Davon findet sich in der Rede jedoch nichts. Im Gegenteil: Anders als Lawrow und Patruschew würdigt Putin sogar ausdrücklich den Anteil der Alliierten am Sieg über Hitler: unter Verweis auf amerikanische Veteranen, die an der Parade angeblich nicht teilnehmen durften, erklärt er, dass auch die Russen stolz seien auf ihre Taten und ihren Beitrag zum gemeinsamen Sieg.

Für den Moment hat es also den Anschein, dass Putin doch nicht alle Brücken hinter sich abbrechen möchte und eine neuerliche Eskalation scheut. Das ist nicht viel, aber in der gegenwärtigen Situation immerhin etwas.

Ein Beitrag von Prof. Dr. Reinhard Wolf. Er ist Professor für Internationale Beziehungen mit dem Schwerpunkt Weltordnungsfragen an der Goethe-Universität.

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