Warum wir Bürgerräte brauchen: die Demokratieforscherin Brigitte Geißel im Gespräch

Vor zwei Jahren begleitete die Politikwissenschaftlerin Brigitte Geißel mit ihrem Team das Modellprojekt eines Bürgerrats, der vom Verein „Mehr Demokratie“ angestoßen worden war. Nun hat der Ältestenrat des Bundestags selbst einen Bürgerrat auf Bundesebene beauftragt.

Zum ersten Mal gibt es einen Bürgerrat auf Bundesebene, den der Bundestag selbst zusammengerufen hat. Würden Sie sagen, es wurde Zeit?

Prof. Dr. Brigitte Geißel: (lacht) Ja, ich finde, es wurde wirklich Zeit. Wir haben zwar in Deutschland schon eine lange Tradition von Bürgerbeteiligung auf lokaler Ebene. Aber sie hat doch ein Schattendasein geführt, denn auf die nationalstaatliche Ebene haben es die Bürgerräte selten geschafft. In anderen Ländern ist das ja schon passiert – in Frankreich zum Beispiel gibt es den Klimarat, und in Irland wurde 2016 zur Überarbeitung der Verfassung ein Bürgerrat eingesetzt. Aber auch in diesen Ländern ist der Bürgerrat die Ausnahme. Ich würde mir eine Institutionalisierung des Bürgerrats wünschen, wie in Ostbelgien.

Wie muss ein Bürgerrat organisiert sein, damit er funktioniert? Er soll zum Beispiel repräsentativ sein. Ist das einfach herzustellen?

Es ist ganz wichtig, dass ein Bürgerrat die Bevölkerung in ihrer jeweiligen Zusammensetzung abbildet. Das ist aber gar nicht so einfach. Man hat etwa Menschen nach dem Zufallsprinzip angeschrieben und gehofft, dass die sogenannte deskriptive Repräsentativität auch ungefähr passen wird. Das war aber nicht so, es melden sich unter den Eingeladenen meistens eben doch die besser Gebildeten. Deshalb setzt man jetzt auf eine geschichtete Zufallsauswahl: Man lädt eine große Gruppe zufallsbasiert ein und bittet diejenigen, die bereit sind teilzunehmen, um Informationen zu Alter, Bildung usw. Auf der Basis dieser Informationen stellt man dann eine Gruppe zusammen, die ein Abbild der Bevölkerung ist.

Manche halten auch Quoten für Minderheiten für sinnvoll. Ist das bei einer repräsentativen Abbildung der Gesellschaft überhaupt nötig?

Das ist schon eine gute Idee, zum Beispiel wenn Minderheiten bei einem spezifischen Thema eine Rolle spielen, macht eine Reservierung von Plätzen für diese Gruppe sehr viel Sinn. Oder wenn eine wichtige Minderheit sehr klein ist und bei einer Zufallsauswahl keine Chance hätte. In British Columbia hat man zum Beispiel bei Citizens’ Assembly on Electoral Reform zwei Plätze für einen Mann und eine Frau aus der indigenen Bevölkerung reserviert.

In einem Bürgerrat treffen sich Menschen, die sich normalerweise kaum begegnen würden. Wie ist dafür gesorgt, dass sich beim Gespräch nicht nur alle ihre Meinungen an den Kopf werfen?

Bürgerräte bestehen immer aus drei Phasen. In der ersten Phase gibt es neutrale Informationen von Experten aus verschiedenen Perspektiven. Diese Informationsphase ist ganz zentral. Sonst hat man nur einen Stammtisch.

Dann gibt es die Deliberationsphase. Da braucht man Moderatoren, die darauf achten, dass die Kommunikation respektvoll ist, dass man sich gegenseitig zuhört und keine Person dominiert. So kommt jemand erst dann ein zweites Mal zu Wort, wenn alle anderen etwas gesagt haben. Diese Phase findet in Kleingruppen statt. Diese Prozesse habe ich nun schon öfter erlebt, und ich muss sagen, dass sie immer erstaunlich gut funktionieren. Man kann dabei zusehen, wie manche anfangs irritiert sind und dann ihre Meinungen im Laufe der Prozesse ändern.

In der dritten Phase werden Empfehlungen zusammengestellt und an die Politik übergeben.

Hassreden kommen also nicht vor?

Nein, ein Face to face-Austausch ist ein anderer Austausch als im Netz. Wenn man ein Gegenüber hat, einen Moderator und eine Gruppe um sich herum, dann ist der Austausch tatsächlich ein anderer.

Die Moderatorin, der Moderator ist sicher auch zentral …

Ja, es braucht einen Moderator, der gut geschult ist, und darauf achtet, dass die Kommunikation respektvoll und inklusiv ist.

Wenn wir nun über den Bürgerrat hinausschauen: Wie kann es sein, dass die Bevölkerung von seiner Arbeit profitiert?

Der Einfluss von Bürgerräten ist gerade ein ganz großes Thema in der Forschung. Da gibt es verschiedene Ideen: Man könnte erstens im Sinne die öffentliche Meinungsbildung die Empfehlungen eines Bürgerrats breit streuen. Dazu braucht es natürlich die Medien. Der zweite Punkt ist der Einfluss des Bürgerrats auf die Politik. Wir kennen das von lokalen Bürgerbeteiligungen. Erst gibt es einen Bürgerrat, und dann sagt die Politik, das interessiert uns weiter nicht, was eine große Frustration zur Folge hat. Es ist also wichtig, dass ein Parlament darauf achtet, was im Bürgerrat diskutiert wird, es dann aufgreift oder eben gute Gründe nennt, wenn Vorschläge nicht umgesetzt werden.

Am besten wäre also, Bürgerräte fänden regelmäßig statt, sie wären institutionell verankert.

Es gibt dazu gerade ein Experiment in Belgien: Das ostbelgische Parlament hat einen ständigen Bürgerrat institutionell an das Parlament gekoppelt, der zu bestimmten Themen ad hoc andere Bürgerräte organisiert. Das finde ich ganz wunderbar.

Ist in einem Bürgerrat eigentlich alles verhandelbar?

Alle Themen, die in der Bevölkerung eine große Rolle spielen, sind dafür geeignet. Man kann Bürgerräte auch dafür nutzen, Agendasetting zu machen, also Themen vorzuschlagen, die von der Politik nicht selbst aufgenommen werden. Man könnte sich aber auch vorstellen, dass ein institutionalisierter Bürgerrat über Gesetzesvorschläge spricht, die im Parlament gerade in Arbeit sind.

Gibt es Themen, die nicht verhandelbar sind?

Die Verfassung steht über allem. Das ist ganz wichtig. Bestimmte Themen, z.B. Todesstrafe, sind schlichtweg nicht verfassungskonform und damit kein Thema für einen Bürgerrat. 

Vor dem Hintergrund der Erfahrung antidemokratischer Tendenzen: Reicht das Instrument der Bürgerräte aus, um die parlamentarische Demokratie zu stärken?

Ich bin ein großer Fan davon, Bürgerräte mit Volksentscheiden zu kombinieren. Die Vorstellung, dass Volksentscheide mit dieser anekdotischen Evidenz vom Brexit immer zu Katastrophen führen, ist einfach nicht wahr. Ich glaube, man muss wie in Irland und in Kanada beides kombinieren. Allerdings bin ich dafür, Volksentscheide nur mit einem ganz langen Vorlauf und unterstützt durch viele Bürgerräte auf allen Ebenen durchzuführen. Unsere Demokratie muss durch diese Art von Deliberation gekoppelt mit Volksentscheiden gestärkt und unterfüttert werden. Wir brauchen mehr Teilhabe.

Der „Bürgerrat“, den der Ältestenrat des Deutschen Bundestags beauftragt hat, soll ein Gutachten zur Rolle Deutschlands in der Welt erarbeiten. 160 per Los gewählte Bürgerinnen und Bürger sind damit befasst. Am 19. März ist Abgabetermin.

Sie gehen ja sogar noch weiter und stellen sich ein gelostes Parlament vor.

Das ist natürlich eine Vision, die es in dieser Form nirgends gibt. Aber wenn man sich das alte Griechenland anschaut, sieht man, dass das Losverfahren dort ganz selbstverständlich war. Man fand es besser als Wahlen. Natürlich brauchen wir immer auch ein gewähltes Parlament, aber ein gelostes zweites Parlament würde dem gewählten Parlament eine weitere Stimme der normalen Bürger zur Seite stellen. Ich bin mir bewusst, dass ein gelostes Parlament nicht ganz unproblematisch ist: Man müsste ungeeignete Mitglieder leicht wieder abwählen können, auch bräuchten alle gelosten Parlamentarier viel Unterstützung. Aber ich finde, die Idee hat eine gewisse Attraktivität. Man soll sich Visionen nicht verschließen.

Machen Sie sich Sorgen um die Demokratie?

Nein, es ist doch jetzt schon sehr viel in Bewegung. Ich denke, dass sich die Parteien-Demokratie, wie wir sie heute kennen, verändern wird.  Die sogenannten Volksparteien haben zusammen gerade mal knapp 50 Prozent der Bevölkerung hinter sich. Neue Parteien entstehen und vergehen. Da geht gerade ein unglaublicher Veränderungsprozess vonstatten. All das verweist darauf, dass wir über neue Formen von Demokratien nachdenken müssen. Wir wählen alle vier Jahr und das war‘s – das funktioniert nicht mehr. Veränderungen werden der repräsentativen Demokratie guttun. Da stimme ich Schäuble zu, dass Demokratien sich verändern müssen, um stabil zu bleiben.

Man kann aber den Eindruck bekommen, dass sich viele überfordert fühlen.

Meine Erfahrung ist: Jeder Mensch hat das Bedürfnis, seine Umwelt in gewisser Weise mitzugestalten. Menschen sagen mir, Politik interessiert mich null, und dann erklären sie mir gleich danach ihre Meinung zum Thema Tierschutz oder Tempolimit. Um diesen demokratischen Spirit wieder zu erwecken, haben wir an der Forschungsstelle „Demokratische Innovationen“, vor allem Jonathan Rinne, ein neues Verfahren entwickelt. Es geht um multiple Themenwahl. Dabei stehen mehrere Themen zur Abstimmung. Zu jedem Thema kann es drei oder vier verschiedene Optionen geben. Zum Beispiel: Beim Thema Tempolimit könnten folgende Optionen zur Wahl stehen – kein Tempolimit, 120 Km/h oder 140 km/h. Die Wählerinnen und Wählen erhalten eine bestimmte Anzahl an Stimmen, z.B. 20, und geben jedem Thema bis zu drei Stimmen. So könnten Wähler Themen priorisieren und so zeigen, was ihnen wichtig ist und was nicht. Der Vorteil der multiplen Themenwahl ist, dass die Wähler nicht nur bei einem Thema Ja oder Nein wählen, sondern eine Vielzahl an Themen und Optionen priorisieren können.

Wir haben das in einer Kleinstadt einmal durchgespielt. Die Parteien waren unglaublich an dem interessiert, was die Bevölkerung gewählt hat. Denn sie wissen dann, was der Bevölkerung wirklich wichtig ist und welche Optionen eine Mehrheit haben.

Wenn man diese multiple Themenwahl regelmäßig durchführen würde, könnte man sich auch die Volksentscheide sparen.

Genau. Wenn die Politik das wirklich aufnehmen und umsetzen würde und sich auch dazu verhielte, dann bräuchte man vielleicht auch keine Volksentscheide. Man könnte die Themenwahl zum Beispiel auf Lokal-, Landes- und Bundesebene mit den Parlamentswahlen koppeln. Denn es gibt ja auf allen Ebenen Themen, zu denen die Bevölkerung sich äußern wollte. Dies müsste natürlich von den Medien begleitet werden, damit auch jeder gut genug informiert ist. Wir haben in unserem Projekt den Wählern zum Beispiel umfangreiche Informationen mitgegeben. Ebenso könnten sie informiert werden, ob die gewählten Optionen Kosten einsparten oder zusätzlich verursachten. So wird den Bürgern deutlich, was mit ihrer Wahl einhergeht.

Noch einmal zum gerade arbeitenden Bürgerrat: Sehen Sie in ihm einen wesentlichen Schritt in die richtige Richtung?

Wenn der Bürgerrat gut gemacht ist – wenn also all das stattfindet: Zufallsauswahl, Information, Moderation, Hineinstrahlen in die Bevölkerung, Auswirkung auf die Politik – dann ja. Wenn man den Bürgerrat aber durchführt, ohne in ihn zu investieren, dann nicht. Denn lieber keine Beteiligung als eine schlecht gemachte. Aber ich verfolge den Bürgerrat natürlich, das wird ganz spannend.

Fragen: Pia Barth

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