Wie ist die Krise der Demokratie in Europa zu erklären?

Aliénor Ballangé. Foto: Stefanie Wetzel; © Forschungskolleg Humanwissenschaften

Aliénor Ballangé, Postdoctoral Fellow am Forschungskolleg Humanwissenschaften (FKH), analysiert die Debatte um die Demokratiedefizite in Europa anhand des Konzepts der Postdemokratie.

Wenn über den Zustand der europäischen Demokratie(n) diskutiert wird, dominiert häufig der binäre Widerspruch von ‚Demokratie versus Nichtdemokratie‘. Um differenzierter auf die Problemlage zu schauen, verwendet die französische Politikwissenschaftlerin Aliénor Ballangé, Postdoctoral Fellow am Forschungskolleg Humanwissenschaften, das Konzept der Postdemokratie, das auf ein Paradoxon hinweist: Obwohl demokratische Infrastrukturen, Praktiken und Institutionen beibehalten werden, scheint die Demokratie ihres politischen Inhalts und insbesondere ihres politischen Inhalts aus der Bevölkerung entleert zu sein. „Die meisten wichtigen Entscheidungen werden nicht mehr von den traditionellen politischen Wahllokalen getroffen, sondern von technokratischen Institutionen, internationalen Organisationen, Ratingagenturen und mächtigen multinationalen Unternehmen“, erläutert Ballangé. Denker wie Jürgen Habermas und Etienne Balibar hätten auf Grundlage des Konzepts der Postdemokratie aufgezeigt, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 bis 2011 die technokratische und expertokratische Integration der EU auf Kosten einer echten Demokratisierung ihrer Entscheidungsfindung von unten verstärkt habe; der Aufstieg einer nicht gewählten Institution wie der Europäischen Zentralbank und die Stärkung zwischenstaatlicher Institutionen wie des Rates der EU und des Europäischen Rates hätten auf Kosten einer direkt gewählten demokratischen Institution wie des Europäischen Parlaments die Kluft zwischen den Völkern Europas und den Brüsseler Eliten vergrößert.

Ballangé interessiert sich besonders dafür, wie die europäischen Institutionen die inzwischen gut dokumentierten Praktiken der partizipativen und deliberativen Demokratie nutzen, um sie in die europäische Entscheidungsfindung zu integrieren. Derzeit arbeitet sie an einem ethnographischen Ansatz zur normativen politischen Theorie, um die Auswirkungen der ‚Conference on the Future of Europe‘ auf eine mögliche Demokratisierung der EU von unten zu messen. Diese Konferenz basiert auf einer digitalen Plattform, die Ideen und Vorschläge von allen Bürgern Europas sammelt, die an der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und ökologischen Zukunft der EU interessiert sind.

Aliénor Ballangé spricht kritisch über den Begriff der „illiberalen Demokratie“, wie er von autoritären Führern wie Viktor Orban in die Praxis umgesetzt wurde. „Diese Bezeichnung sollte uns nicht täuschen: Es kann keine illiberale Demokratie geben, da die Demokratie notwendigerweise und gleichzeitig auf einer volksnahen und bürgerlichen Seite und einer liberalen und verfahrensrechtlichen Seite beruht, die die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Justiz, die Medienfreiheit, die Unverletzlichkeit der Verfassung usw. durchsetzt. Die Behauptung, die Demokratie zu fördern, indem man den Rechtsstaat im Sinne der eigenen persönlichen und politischen Interessen manipuliert, ist daher eine Antinomie, die niemanden täuschen sollte.“

Pseudodemokratische Regime, wie sie derzeit in der gesamten Visegrád-Gruppe (Ungarn, Slowakei, Tschechische Republik, Polen) entstünden, sind ihrer Meinung nach nicht nur eine Gefahr für die Existenz der EU als internationale Organisation, die strukturell auf der Idee der liberalen Demokratie beruht, sondern auch für das Verständnis dessen, was der Begriff Demokratie bedeutet und impliziert. Ballangé sieht darin, dass europäische Staaten, wie in den letzten Monaten Polen, den Vorrang ihres nationalen Rechts vor dem EU-Recht beanspruchen, eine große Gefahr für das Überleben der EU. Da die EU keine politische Föderation sei, beruhe ihre Existenz im Wesentlichen auf dem Recht – und auf der Bereitschaft ihrer Mitgliedstaaten, dieses gemeinsame Recht zu achten. „Wenn dieses Recht nicht mehr vorrangig ist, gibt es nichts, was die Mitgliedstaaten daran hindern könnte, morgen zu tun, was sie wollen, was ihnen passt, bis hin zu einer legislativen und rechtlichen Unsicherheit, die für die EU tödlich sein könnte“, betont Ballangé.

Seit August 2020 ist Aliénor Ballangé Forschungsstipendiatin am FKH – zunächst als Fellow des Justitia Center for Advanced Studies (Normative Orders, mit Prof. Rainer Forst) und dann als Goethe-Fellow auf Einladung von Prof. Sandra Seubert. Ihr Thema lautet: „The Past Future of European (Post-)Democracy“. Ballangé fühlt sich am FKH sehr gut aufgehoben. „Die Arbeitsbedingungen sind ideal, und wir werden von dem Team in jeglicher Hinsicht sehr gut unterstützt. Mein besonderer Dank gilt Iris Koban und Beate Sutterlüty, die uns während dieser langen Tortur, die die gesundheitliche Situation aufgrund der Coronavirus-Pandemie war und noch ist, begleitet haben.“ Als Wissenschaftler* in inmitten einer Pandemie im Ausland zu arbeiten, sei aufgrund der sozialen Dimension ihrer Arbeit schwierig, betont sie. Letztes Jahr waren zwischenzeitlich nur drei oder vier junge Forscher*innen am FKH.

„Aber die Arbeit in einer so schönen natürlichen Umgebung wie dem FKH trägt dazu bei, die Moral hochzuhalten, egal was passiert“, sagt sie. In Bad Homburg zu leben und im Bereich der Kritischen Theorie zu arbeiten, könnte auf den ersten Blick eher kontraintuitiv erscheinen, da die Stadt so reich ist, erklärt Ballangé. „Man kann aber sagen, dass sie gerade deshalb ein besonders fruchtbarer Forschungsboden ist.“ Der Französin gefällt es, in einem Park zu leben, nur wenige Meter von einem Wald entfernt, und den Wechsel der Jahreszeiten intensiv zu erleben. „Ich glaube, ich habe großes Glück, hier leben und arbeiten zu können.“ Sie ist gleichzeitig aber auch froh, dass Frankfurt so gut erreichbar ist und genießt dort die Weltoffenheit und kulturelle Vielfalt. Befragt nach ihrer Zukunft, sagt Aliénor Ballangé, dass sie gerne weiterhin in der Forschung und Lehre tätig sein möchte. Sie ist dabei nicht auf Frankreich beschränkt, würde sich sehr über eine feste Stelle in Deutschland oder einem anderen westeuropäischen Land freuen. Nächstes Jahr wird sie noch einige Monate als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Universität verbringen.


Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 6/2021 (PDF) des UniReport erschienen.

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