Die Politikwissenschaftlerin Sandra Seubert untersucht, welcher Wert dem Privaten im Zeitalter des Digitalen noch zugeschrieben werden kann.
Kaum ein Thema hat in den letzten Jahren die öffentliche Diskussion geprägt wie die Frage nach dem Datenschutz: Die von Edward Snowdon losgetretene Affäre um den amerikanischen Geheimdienst hat endgültig den Nutzer digitaler Medien als eine gefährdete Spezies erscheinen lassen. Denn fast jeder benutzt heute mobile Smartphones und Tablet Computer für eine allgegenwärtige Kommunikation, Datenspeicherung und -verwaltung und noch vieles mehr – und ist damit latent staatlichen und öffentlichen Datenspionen ausgesetzt. Verschwindet nun in dem Maße, wie das Nutzerverhalten vor ungewollten Zugriffen von außen kaum oder möglicherweise gar nicht zu schützen ist, auch die Privatsphäre, wird der Mensch zunehmend gläsern?
Sandra Seubert, Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Theorie an der Goethe-Universität, zeigt sich verwundert darüber, dass im öffentlichen Diskurs anscheinend ungefragt vorausgesetzt werde, was das Private sei. „Man beklagt, dass mit dem Privaten gegenwärtig ein Wert gefährdet oder gar im Verschwinden begriffen ist: Aber was ist es eigentlich, was wir hier normativ wertschätzen?“, fragt Seubert, die als Sprecherin einer von der VW-Stiftung geförderten Forschungsgruppe gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen der Medien-, Rechtswissenschaft und Informatik den ‚Strukturwandel des Privaten‘ erforscht.
Dass das Private als derart schützenswert betrachtet werde, sei nicht selbstverständlich, habe es doch in der Vergangenheit immer auch starke Kritik auf sich gezogen, insbesondere aus feministischer und marxistischer Sicht. Entstanden sei die präskriptive Verwendung des Begriffs des Privaten erst in der Moderne. Wenn eine Person über Privatheit verfügt, kann sie ein selbstbestimmtes Leben führen, so das Credo des Liberalismus. Diese Wertschätzung der Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen und Festlegungen war dagegen in der Antike noch unbekannt: Wer wie Frauen und Sklaven dem häuslichen Kontext zugeordnet war, hatte keinen Zugang zum öffentlichen Leben und zur Polis, als Ort einer gemeinschaftlichen Verwirklichung des ‚guten Lebens‘. Dieser Bezug auf eine gemeinschaftliche Praxis lasse das heutige liberale Denken, nach dem Privatheit vor allem als Wert für Individuen, nicht aber in seiner gesellschaftlichen Dimension erkannt werde, so defizitär erscheinen. Die Forschungsgruppe legt deshalb einen besonderen Fokus auf den politischen Werts des Privaten: seine Bedeutung für die Demokratie, für Partizipation, Widerspruch und Kritik.
Adornos Vermächtnis
Einen fruchtbaren theoretischen Anknüpfungspunkt für eine umfassendere Perspektive auf das Private findet Seubert in der Frühen Kritischen Theorie. „Adorno und seine Mitstreiter interessierten sich für die Routinen des Alltags, insofern sie daran aufspüren konnten, wie wir von den ‚Verwertungsimperativen des Kapitalismus‘ formiert und in unserer Selbstbestimmung eingeschränkt werden“, erläutert Seubert. Die Subjekte wähnten sich zwar frei, aber ihr Privates sei immer durchdrungen von Machtstrukturen. „Durch die Beschäftigung mit der Frühen Kritischen Theorie und ihrer Rezeption ergeben sich theoretische Ressourcen, um den gegenwärtigen‚ Gefährdungsdiskurs des Privaten‘ zu hinterfragen. Wenn sich das Private, so wie es im liberalen Denken als Raum der Freiheit konzipiert ist, vielmehr als Zwangsraum entpuppt, dann ist der Rückzug in diese Zitadelle fragwürdig geworden.“
Anders als die frühe Kritische Theorie sieht Seubert das Private allerdings nicht nur in seinen repressiven, sondern auch in seinen ermöglichenden Dimensionen. Auch in den digitalen Kommunikationsformen steckten Potenziale sozialen Austauschs und neue Möglichkeiten politischer Partizipation. Sieht sie nicht bei vielen jungen Menschen ein hohes Maß an Unbedarftheit und Unreflektiertheit im Umgang mit digitalen Medien? „Vielfach wird ein digitaler Exhibitionismus beklagt, insbesondere bei jungen Menschen. Nutzerinnen und Nutzer wissen heutzutage aber durchaus, dass sie ihre Daten bisweilen nachlässig freigeben, sie sind allerdings auch an bestimmten‚ Benefits‘ interessiert, die sie dadurch erhalten. Medienwissenschaftler_innen bezeichnen das als sog. ‚Privacy-Paradox‘.“
Sicherlich sei es wichtig, rechtzeitig eine ‚digital literacy‘, digitale Kompetenz, zu erwerben. „Das Netz bietet zunächst einmal nichts anderes als eine kommunikative Infrastruktur. Hinter dieser agieren jedoch keine öffentlich-rechtlichen Anbieter mit einem gemeinnützigen Programmauftrag, sondern Firmen, die ökonomische Interessen haben und Daten primär als Waren betrachten.“ Die Lösung, diese Daten in Zukunft zu bepreisen, sieht Seubert kritisch. Die Einzelnen könnten darauf natürlich einsteigen und sich und ihre persönlichen Daten meistbietend als Eigentum verkaufen. Damit würde allerdings eine Spirale der Kommerzialisierung angereizt und eine Perspektive auf Daten als gemeinschaftliches Gut verstellt.
Hinsichtlich der Verantwortung des Einzelnen sieht Seubert deutliche Grenzen: „Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, dass wir die Integrität von Daten in individuellem Selbstschutz herstellen können.“ Schon jetzt werde Nutzern zugemutet, durch ständiges Aktualisieren von Programmen für Selbstschutz zu sorgen. Aber Datensicherheit könne nicht dauerhaft an diese delegiert werden. Die schnellen Änderungen und Formen der Vervielfältigung forderten auch die Rechtswissenschaft heraus: Das juristische Paradigma des so genannten ‚informed consent‘, die informierte Einwilligung in die Nutzung von Daten, werde im digitalen Zeitalter grundsätzlich in Frage gestellt.
Bedeutung der Integrität sozialer Kontexte
Worin liegt nun der Wert des Privaten für die Demokratie? Demokratie basiere, so betont Seubert, prinzipiell auf einem Vertrauen in die Integrität von sozialen Kontexten. Im digitalen Zeitalter bedeutet dies, sicherzustellen, dass Daten über ein Individuum, die in verschiedenen Kontexten entstanden sind, nicht beliebig verschoben oder zusammengeführt werden können. Der Besuch eines Arztes, die Beratung bei einer Bank oder der Austausch über politische Interessen seien Ausdruck verschiedener sozialer Rollen, die eine Person nur auszuüben in der Lage sei, wenn die Informationen nicht beliebig von einem Kontext in einen anderen verschoben werden können. „Privatheit geht verloren, wenn der Zugriff auf und die Zusammenführung von Daten nicht durchschaubar ist.
Nicht allein das manifeste, sondern selbst das potenzielle Eindringen in Kommunikationsbeziehungen durch ökonomische und staatliche Akteure ist eine substantielle Bedrohung demokratischer Selbstbestimmung, die nicht wie selbstverständlich durch einen vermeintlichen trade-off von Privatheit und Sicherheit gerechtfertigt werden darf.“ Privatheitsdiskurse wurden immer schon von neuen Technologien angeheizt, betont Sandra Seubert. Ebenso wie zur Zeit der Erfindung von Fotographie und Telefon fordern die neuen Informationstechnologien dazu heraus, den Gefährdungspotenzialen Schutzmöglichkeiten zur Seite zu stellen. Die Digitalisierung der Kommunikation in den letzten beiden Dekaden habe die früheren Herausforderungen aber bei weitem übertroffen: Sie forderten stärker als zuvor die Grenzen und den Wert dessen heraus, was wir gemeinhin unter einer schützenswerten Privatsphäre verstanden hätten.
Ein Zurück in ein vordigitales Zeitalter sei nicht möglich und wegen des Aspekts der sozialen Teilhabe auch nicht wünschenswert. Die Asymmetrie von Wissen, von Kommunikations- und Kontrollmacht habe jedoch nicht nur für die einzelnen Individuen drastische Auswirkungen, sondern ließe sich als Bedrohung demokratischer Selbstbestimmungspraxis im Ganzen verstehen. „Wenn in unseren Sozialbeziehungen ein ungezwungenes Sich-zu-sich-selbst-Verhalten, nicht mehr möglich scheint, wird damit auch das Ideal einer vielstimmig-egalitären demokratischen Öffentlichkeit im Ganzen beschädigt.“
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Privatheit und politische Freiheit
Herausgegeben von Sandra Seubert. In: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung. 13. Jg. , Heft 1, 2016
Privatheit und Demokratie
Interdisziplinäre Konferenz, Goethe-Universität Frankfurt, 22.-23. September 2016
Die Veranstaltung ist kostenfrei. Anmeldungen bis zum 30. August 2016 bitte an: konferenz@strukturwandeldesprivaten.de
Informationen unter: www.strukturwandeldesprivaten.de
Prof. Dr. Sandra Seubert,
Goethe Universität Frankfurt, Institut für Politikwissenschaft
Tel: (069) 798-36552, Mail: sekretariat.seubert@soz.uni-frankfurt.de
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Dieser Artikel ist in der Ausgabe 4-2016 des UniReport erschienen [PDF].