Was Corona über Nacht aus Studierenden und Lehrenden macht (oder machen kann…)

Gedanken aus der Fachdidaktik – von Daniela Elsner und Heike Niesen

Es gibt sie: Studierende, die das, was sie tun, beim Wort nehmen. Sie setzen sich mit Inhalten auseinander, betrachten sie kritisch und entwickeln eigene Standpunkte. Sie investieren Ressourcen in ihr Studium und damit in ihre Zukunft. Sie wollen und können lernen mit allem, was dazugehört: sich Wissen anzueignen, neue Informationen mit vorhandenen zu verknüpfen, Rückmeldungen aufzunehmen und für weiteres Lernen nutzbar zu machen. Idealiter sind sie hoch motiviert, interessieren sich für das, wozu sie sich kraft ihrer (hoffentlich) eigenen Studienwahl entschieden haben. Sie sind willens und in der Lage, auch als schwierig empfundene Studienanteile zu meistern, auch wenn dies bedeutet, sich im Sinne der eigenen Weiterentwicklung „durchzubeißen“. Dass diese grundsätzlichen Eigenschaften oder Haltungen nur dann zur vollen Entfaltung gelangen können, wenn sich universitäre Lehrkräfte einer Lehre verschreiben, die entsprechende Lernangebote macht, ist als Einsicht wahrscheinlich so alt wie Überlegungen zur Kunst guten Lernens und Lehrens (Didaktik) selbst. Auch was „gute Lehre ausmacht“, ist hinlänglich bekannt. Genannt seien grundsätzliche Aspekte wie Lernendenorientierung und damit differenzierte Lehr-/Lernarrangements mit kognitiv aktivierenden Aufgaben und Unterstützungsangeboten (im Fachjargon „scaffolding“), transparente Zielorientierung sowie eine kontinuierliche Rückmeldekultur. Zum Glück gibt es auch diese Lehrenden. Doch trotz dieses wunderbar anmutenden Zusammenspiels von Lernenden und Lehrenden muss konstatiert werden:

Es gibt sie (auch): Studierende, die Schwierigkeiten mit ihrem Studium haben: weil sie keine optimalen Lernbedingungen vorfinden, ihr Studium durch oft prekäre Arbeitsverhältnisse finanzieren müssen, sie Kinder großziehen oder Angehörige pflegen oder auch schlicht deshalb, weil sie zu spät bemerken, dass ein Studium nicht das ist, was ihren eigentlichen Fähigkeiten oder Interessen entspricht. Einige unter ihnen auch, weil sie ein Studium nicht als das begreifen, was es tatsächlich ist: Hier findet sich z. B. der Studierende, der sich im Schutz einer überfüllten Übung in die hinterste Ecke verkriecht, weil er die Texte für die Sitzung nicht gelesen hat, aber auch die Studierende, die in der Gruppenarbeit durch Abwesenheit glänzt und von ihren Kommilitoninnen als Trittbrettfahrerin verschmäht wird. Aber gut, Texte nicht lesen oder die Gruppenarbeit verschlafen kann jeder und jedem einmal passieren. Problematisch wird es, wenn Studierende ein Studium als reine Scheinjagd betrachten (im Zuge von Bologna vielleicht aber noch nachvollziehbar), als Ansammlung von CP, die mit möglichst wenig Aufwand und Einsatz verbunden sein soll, denn eigentlich geht es nur um eines: schnell fertig zu werden, um zum eigentlichen Job zu kommen. Treffen solche Studierende auf Lehrende, für die Lehre schlimmstenfalls ein lästiges Anhängsel ihrer eigentlichen Passion – der Forschung – ist, so tritt eine Situation ein, in der zielgerichtetes Lernen praktisch unmöglich wird.

Und jetzt? Jetzt gibt es Corona. Corona ist ein Brandbeschleuniger: Probleme, die es teilweise vorher schon gab, werden verschärft und bringen neue Probleme mit sich. Wie sich in Theorien einarbeiten, wenn der Alltag zwischen Kinderbetreuung und Pflege Angehöriger zerrissen wird? Wann sich mit der Referatsgruppe treffen, wenn ein Großteil des Tages mit der Jobsuche verbracht wird, weil das Restaurant, in dem bisher gekellnert wurde, coronabedingt geschlossen hat? Ohnehin ist es viel schwieriger geworden, den Anforderungen von Dozierenden in nunmehr meist online stattfindenden Kursen gerecht zu werden – so jedenfalls die nun mehrfach geäußerte Klage von Studierenden in offenen Briefen an die Universität. Zu viele einzureichende Aufgaben, zu viel Arbeitsaufwand, Digitalisierungswirrwarr, Stress auf allen Ebenen. Totale Überforderung. Dass es ganz so einfach nicht ist, wird schnell ersichtlich, wenn man Corona als das sieht, was es auch ist: ein Brennglas. Es schärft den Blick für wesentliche Dinge, Dinge, die schon vorher da waren, die aber nur bedingt wahrgenommen wurden, jetzt aber vielleicht entscheidend sind für ein erfolgreiches und dennoch von negativem Stress weitgehend befreites Studium. Studieren heißt…

Gezielte Selbstorganisation, dazu gehört:

  • Sich realistische Ziele zu setzen. Solche findet man am besten durch eigenes Hinterfragen und Aufschreiben der Antworten: Was genau will ich in diesem Semester erreichen? Wie viele Veranstaltungen kann ich tatsächlich bewältigen pro Woche, wenn ich weiß, dass ein Credit Point 30 Arbeitsstunden pro Semester sind?
  • Ein gutes Zeitmanagement: Wie sieht meine Woche aus? Stimmt mein Zeitplan mit meinen Zielen überein? Wo möchte ich meine Prioritäten setzen und was muss ich dafür gegebenenfalls streichen? Wie viel Zeit plane ich für meine Aufgaben ein und wann genau?
  • Routinen aufbauen: Wie strukturiere ich meinen Tag so, dass ich mich damit wohlfühle? Bin ich eher ein Morgenmensch oder ein Nachtmensch? Wie kann ich meinen Tag so organisieren, dass ich die wichtigen Dinge in meiner Konzentrationsphase erledige?
  • Regelmäßige Selbstreflexion: Was ist mir in dieser Woche gut gelungen? Was ist mir schwergefallen und woran lag das? Was kann ich in der nächsten Woche anders machen? Hier kann ein Wochenjournal hilfreich sein.
  • Ressourcen einschätzen und nutzen: Was/wer gibt mir Energie? Was hilft mir in Stresssituationen? Wie kann ich diese Ressourcen noch besser/häufiger nutzen?
  • Mit anderen kommunizieren: Besprechen Sie sich mit anderen, suchen Sie sich Kommilitonen, mit denen Sie Aufgaben gemeinsam bearbeiten können, nicht alle müssen immer dasselbe tun. Kommunizieren Sie auch mit Ihren Dozierenden frühzeitig, wenn Ihnen etwas schwerfällt, Sie etwas nicht verstanden haben oder Sie weitere Informationen brauchen.
  • Sich selbst zu belohnen: Legen Sie eine Checkliste an mit Ihren Aufgaben und haken sie ab, wenn Sie die Aufgaben erledigt haben. Schauen Sie regelmäßig auf das, was Sie schon geschafft haben und nicht nur auf das, was noch nicht.

Herausforderungen annehmen: Studieren kann nicht jeder. Seien Sie sich im Klaren darüber, dass Sie mit dem Abitur eine Eintrittskarte zum Kreis der „großen Denker“ bekommen haben. Seien Sie stolz auf sich und verzweifeln Sie nicht an schwierigen Aufgaben. Sehen Sie sie als Herausforderung an, die Sie in der Lage sind mit (mehr oder weniger) Anstrengung zu lösen.

Aktive Beteiligung: Verdeutlichen Sie sich, dass Sie nur dann sinnvoll studieren, wenn Sie sich an Lehrveranstaltungen aktiv beteiligen. Das bedeutet nicht, sich häppchenweise mit Wissen „füttern“ zu lassen und in Seminaren ab und zu die Hand zu heben. Es bedeutet mitzudenken, auf der Folie bereits vorhandenen Wissens und vorhandener Fähigkeiten Neues zu konstruieren, individuell, mit Kommilitonen, mit Dozierenden. Nicht nur Studierende, sondern auch Lehrende können in der aktuellen Situation ganz besonders davon profitieren, eingefahrene und oft lieb gewonnene Routinen auf den Prüfstand zu stellen/zu hinterfragen, und ggf. durch folgende Empfehlungen zu ergänzen:

Machen Sie Studierenden klar, was Sie erwarten. Studierende befinden sich in einem Entwicklungsprozess, der auch beinhaltet, dass sie erst einmal lernen, inhaltlich Maßgebliches von weniger Wichtigem zu unterscheiden. Hierzu gehört auch, fachwissenschaftliche Texte zielorientiert zu durchdringen. Die Aufforderung, „Wichtiges im Text zu markieren“, reicht hier oft nicht aus, auch wenn diese Technik in der Schule eingeübt wurde.

Wählen Sie einzureichende Aufgabenbearbeitungen besonnen aus. Es ist nicht notwendig, dass ein Portfolio am Ende eines virtuellen Seminars den Umfang eines Telefonbuchs hat. Viel wichtiger ist es, Aufgaben so auszuwählen, dass sie den Lernprozess der Studierenden spiegeln und für das weitere Studium fruchtbar gemacht werden können.

Kommunizieren Sie mit Ihren Lerngruppen. Virtuelle Sprechstunden sind eine tolle Erfindung. Sie reichen jedoch bei Weitem nicht aus, das zu erfüllen, was hier unter Kommunikation verstanden werden soll: kontinuierliche Hilfestellungen auf dem Weg zu anvisierten Lernzielen sowie inhaltsbezogenes, idealerweise individuelles Feedback zu eingereichten Arbeitsergebnissen (bspw. durch die Bereitstellung von Musterlösungen oder, mit zugegebenermaßen hohem, aber gut investiertem Korrekturaufwand verbunden, schriftliche Rückmeldungen zu ausgewählten Aufgaben).

Begeistern Sie! Es muss nicht immer die didaktisch- methodische Zauberkiste sein. Aber ein Aspekt, der (nicht erst seit Corona!) wenig en vogue ist, ist die Liebe zu unseren Disziplinen, zu unserem Beruf, und dieser vereint Forschung und Lehre. Unser Auftrag ist es, junge Menschen zu verantwortungsvollen Individuen heranzubilden, ob nun digital oder analog. Wir sollten uns deshalb nicht in aufgeregten Diskussionen um Kleinigkeiten verlieren, oder in der Frage, ob nun zwei oder doch nur eine Aufgabe pro Seminarsitzung angemessen ist. Wir sollten unsere Studierenden vom Studieninhalt her begeistern – disziplinimmanent wie -übergreifend.

Damit nicht Corona etwas mit uns macht, sondern wir das Beste aus Corona.

Prof. Dr. Daniela Elsner ist Leiterin der Abteilung Didaktik und Sprachlehr- und -lernforschung Englisch am Institut für England- und Amerikastudien und Direktorin der Akademie für Bildungsforschung und Lehrerbildung an der Goethe-Universität
Dr. Heike Niesen ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Didaktik/Sprachlehr- und Lernforschung Englisch am Institut für England- und Amerikastudien der Goethe-Universität.

Dieser Artikel ist in der Ausgabe 3.20 des UniReport erschienen.

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