Sigmar Gabriel, Bundesminister a. D. und Vorsitzender der Atlantik-Brücke e. V., sprach auf dem Transatlantic Forum in Bad Homburg über die weltpolitischen Verschiebungen.
Deutschland, die EU und die transatlantischen Beziehungen nach der ‚Zeitenwende‘: So war der Vortrag des früheren Vizekanzlers und SPD-Parteichefs Sigmar Gabriel überschrieben. Die bereits zweite John McCloy Lecture am Forschungskolleg Humanwissenschaften war mit Spannung erwartet worden, die Veranstaltung war restlos ausgebucht. Nach den Grußworten des Direktors des Forschungskollegs Humanwissenschaften, Prof. Matthias Lutz-Bachmann, des Universitätspräsidenten Prof. Enrico Schleiff und des Oberbürgermeisters von Bad Homburg v. d. Höhe, Alexander Hetjes, führte der Politikwissenschaftler Prof. Gunther Hellmann (Goethe-Universität) in die beeindruckende politische Biographie des Vortragenden ein.
Danach kam Sigmar Gabriel ans Rednerpult und hielt seinen einstündigen Vortrag nahezu frei. Die Atlantik-Brücke, die 2022 ihren 70. Geburtstag feiern durfte, hätte es ohne John McCloy nicht gegeben, betonte Gabriel in seiner Einleitung. Zudem hätte McCloy den amerikanischen Präsidenten erfolgreich davon abgehalten, den Morgenthau-Plan zur Deindustrialisierung Deutschlands umzusetzen. Doch das heutige Amerika, fuhr Gabriel fort, sei ein anderes Land, in dem die Mehrheitsgesellschaft nicht mehr europäische Wurzeln habe; deutsch-amerikanische Themen spielten im gesellschaftlichen Diskurs nicht mehr eine so große Rolle wie in der Nachkriegszeit. Vielmehr gehe es heute um das zukünftige Verhältnis von Europa zu den USA.
Die USA – eine »pacific nation«
Den von Olaf Scholz angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine geprägten Begriff der „Zeitenwende“ habe er selbst bereits in seinem 2018 erschienenen Buch, das den Begriff im Titel trägt, verwendet. Im Unterschied zu Bundeskanzler Olaf Scholz halte er den Krieg Russlands gegen die Ukraine aber nicht für den Beginn einer Zeitenwende, sondern für eine Folge davon. Gabriel erinnerte mit dem Blick auf die Frühe Neuzeit daran, dass nahezu 600 Jahre lang der Atlantik das weltpolitische Gravitationszentrum verkörpert habe. Die Achse zwischen Europa und Amerika habe das Weltgeschehen bestimmt. Doch nun, so Gabriel, komme es zu einer Verlagerung in Richtung Indopazifik. Dort lebten zwei Drittel der Weltbevölkerung, fünf Nuklearmächte seien dort ansässig. Während man in Europa diese tektonische Verschiebung noch nicht wirklich erkannt habe, seien die USA schon seit 20 Jahren mit der Frage beschäftigt, wie sie nun mit ihrer weltpolitischen Rolle umgehen sollen.
Die USA seien von ihrem Selbstverständnis her bislang die führende Wirtschafts- und Technologie-Nation, aber auch der Garant einer liberalen Weltordnung, mit von ihnen mit ersonnenen Institutionen wie der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds und der UNO – auch wenn, wie Gabriel einräumte, die Amerikaner durchaus des Öfteren gegen liberale Ideen verstoßen hätten. George W. Bush habe die USA als „pacific nation“ bezeichnet, sein Nachfolger Barack Obama von der Hinwendung zum Pazifik gesprochen. Wo die Amerikaner sich aus Krisenherden entfernten, entstünde ein Machtvakuum, das andere Großmächte zu füllen versuchten. Ein dramatisches Beispiel sei der Konflikt zwischen Saudi-Arabien und dem Iran, der den Bürgerkrieg im Jemen nach sich gezogen hätte, laut UN augenblicklich die größte humanitäre Katastrophe. China habe den Kontakt zwischen den beiden Ländern hergestellt, um den Krieg zu beenden, nicht die USA. Auch zur Beendigung des Krieges Russlands gegen die Ukraine sei China mit einem Friedensplan aktiv geworden: Auch wenn dieser nicht seinem Namen gerecht werde, sei es doch erstaunlich, dass nun China dem Westen erkläre, wie ein Konflikt zu lösen sei. Europa sei bei vielen Konflikten auf der Welt nur Zuschauer.
Re-Nationalisierung
Die Zeitenwende zeige sich in dem paradoxen Befund, dass eine Re-Nationalisierung von Konflikten zu beobachten sei, wenngleich die drängenden Probleme wie der Klimawandel globale Ausmaße hätten. Viele Länder „muskeln“ sich auf, so Gabriel. Auch Großbritannien habe die Vorstellung einer größeren Unabhängigkeit sehr attraktiv gefunden und daher die möglichen ökonomischen Folgen des Brexit in Kauf genommen. Auch der französische Präsident Macron habe nun von einer europäischen Einigung ohne die USA gesprochen. Daher müsse sich Deutschland an eine wichtige Aufgabe erinnern: nämlich die auseinanderstrebenden Kräfte in Europa zusammenzuhalten. Die Wiedervereinigung sei ohne das Zutun der Amerikaner nicht zustande gekommen, in Europa habe man ein vereinigtes Deutschland durchaus kritisch gesehen. Die Einbindung Deutschlands in Nato und EU habe entscheidend dazu beigetragen, die Ängste vor dem deutschen Nachbarn zu vertreiben. Die transatlantische Achse zu Amerika habe, betont Sigmar Gabriel, eine Zukunft, wenngleich dies in der Zukunft damit einhergehe, dass Deutschland mehr Verantwortung übernehmen müsse.
In der abschließenden Diskussion ging es unter anderem um die Frage, ob der Westen künftig weniger „besserwisserisch“ mit dem Globalen Süden agieren sollte, gerade vor dem Hintergrund eines zunehmenden Einflusses von Russland und China. „Werte zu berücksichtigen ist richtig, aber nur darauf zu setzen, bringt nichts. Man muss die verschiedenen Interessen ausbalancieren“, sagte Gabriel. Dass man außenpolitisch nur mit den Staaten in Kontakt trete, die die gleichen Werte teilten, sei nicht sinnvoll. Befragt nach dem Krieg Russlands gegen die Ukraine, kam Gabriel auf die lange Zeit auch in Deutschland verbreitete Einschätzung zu sprechen, Russland sei lediglich eine „kleine Sowjetunion“. Auch er habe Fehler bei der Beurteilung der Interessen Russlands gemacht. „Wandel durch Annäherung“ sei lange Zeit die Maxime in der deutschen Außenpolitik gewesen, aber man habe die revisionistischen Tendenzen in Russland nicht gesehen. Der Krieg gegen die Ukraine diene langfristig auch dem innenpolitischen Zweck, Russland in eine Diktatur führen zu können. Gabriel erinnerte gleichzeitig an die Warnung Henry Kissingers, falls Russland zerfalle: Dies berge die Gefahr, dass gleich mehrere Atommächte daraus hervorgehen könnten. Putin wolle, so Gabriels Einschätzung, nur mit den USA, nicht mit Europa, verhandeln. Die Frage bliebe, welchen Einfluss bei der Lösung des Konflikts der Globale Süden nehmen könne.
ÜBER DAS FORUM
Das John McCloy Transatlantic Forum wurde im November 2022 am Forschungskolleg Humanwissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt gegründet. Als Plattform für den Dialog mit der Öffentlichkeit ist das Forum eng mit dem am FKH angesiedelten interdisziplinären Forschungsprojekt Democratic Vistas. Reflections on the Atlantic World verbunden, das von dem Politikwissenschaftler Prof. Dr. Gunther Hellmann und dem Amerikanisten Prof. Dr. Johannes Völz geleitet wird.
Nächste Veranstaltung
Donnerstag, 7. Juni 2023, 19.30 Uhr, Forschungskolleg Humanwissenschaften, Am Wingertsberg 4, 61348 Bad Homburg
Buchvorstellung: Thomas Biebricher, Mitte/Rechts. Die internationale Krise des Konservatismus (Suhrkamp 2023)
Die Darmstädter Soziologin Greta Wagner, die wie Thomas Biebricher auch Mitglied des Forschungsprojektes »Democratic Vistas« ist, moderiert das Gespräch.
forschungskolleg-humanwissenschaften.de