Eine Publikation würdigt Spiros Simitis – Julia Esser stellt das Buch vor.
Die Schriftenreihe „Frankfurter Studien zum Datenschutz“ erinnert an den großen Frankfurter Rechts-wissenschaftler Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Spiros Simitis (verstorben am 18. März 2023). Die in der Reihe gerade erschienene Publikation „Spiros Simitis – sein Vermächtnis“ gibt die Vorträge eines am 15. Januar 2024 an der Goethe-Universität veranstalteten Gedenksymposiums in leicht ergänzter und um zwei Beiträge erweiterten Form wieder. Verschiedene Beiträge reflektieren seine breiten Impulse, würdigen sein bis heute andauerndes wissenschaftliches Vermächtnis und gedenken seiner als Menschen, Gelehrten und Politiker (so der Titel des einführenden Beitrags von Prof. Dr. Dr. h.c. Gerhard Dilcher, verstorben am 1. Juli 2024). Mit diesem Band wird nicht nur eine große Persönlichkeit der Frankfurter Universität, sondern auch eine große Zeit der Frankfurter Universität, nämlich die 70er und 80er Jahre, lebendig und vielseitig gewürdigt.
Prof. Simitis prägte als Inhaber der Professur für Arbeitsrecht, Bürgerliches Recht und Rechtsinformatik mit dem Themenschwerpunkt Datenschutz seit seiner Berufung 1969 über viele Jahre den Fachbereich Rechtswissenschaften und die Goethe-Universität; deren Entwicklungen rund um die 1970er Jahre hat er eng begleitet. Trotz zahlreicher Rufe an höchst renommierte Universitäten im In- und Ausland und der langjährigen Tätigkeit als Hessischer Datenschutzbeauftragter von 1975 bis 1991 blieb er der Universität treu und war als Direktor der von ihm begründeten Forschungsstelle Datenschutz bis zur Übergabe an Prof. Spiecker Mitte der 2010er Jahre höchst aktiv. Von 2008 bis 2012 prägte er als Vorsitzender des Wissenschaftlichen Direktoriums den Aufbau des Forschungskollegs Humanwissenschaften.
Prof. Simitis war nicht nur ein Wissenschaftler von größter Ausstrahlungswirkung. Er war als überzeugter Europäer und vor allem als Datenschutzrechtler national und international von enormer Wirkmächtigkeit auch im politischen und institutionellen Bereich. So bekleidete er hochrangige Positionen in unterschiedlichsten Gremien und Kommissionen in Deutschland und Europa. So war er u. a. von 2000 bis 2005 Vorsitzender des Deutschen Ethikrates, bei der EU war er etwa seit 1988 ständiger Berater der EU-Kommission in Datenschutzfragen und von 1998 bis 1999 Vorsitzender der High-Level-Experten-Kommission der EU-Kommission zur Grundrechtecharta. Für den Europarat leitete er von 1982 bis 1986 die Expertenkommission für Datenschutzfragen. Ebenso zahlreich sind seine Auszeichnungen und Ehrungen im In- und Ausland, herausgehoben seien nur die Ehrenmitgliedschaft des Deutschen Juristentags oder die höchste Auszeichnung der University of Berkeley, die Chancellor’s Citation in 2010 neben diversen Ehrendoktorwürden.
»Vater des Datenschutzes«
Sein sichtbarstes Vermächtnis – mit weltweitem Einfluss – hinterlässt Prof. Simitis im Datenschutzrecht. Als Computer noch mit Lochstreifen programmiert wurden und das Internet nicht einmal angedacht war, warnte Prof. Simitis schon klar- und weitsichtig vor den Risiken für die individuelle Selbstbestimmung und die Demokratie, weil die technisch bedingte Informationsmacht Bürger/-innen schutzlos lässt. Er entwickelte als „Vater des Datenschutzes“ das weltweit erste Datenschutzgesetz für Hessen (1970) und trug entscheidend dazu bei, dass dem Datenschutz europa- und weltweit die heutige Bedeutung und Konzeption zukommt.
Die Beiträge vermitteln aber weit über den Datenschutz hinaus einen sprechenden Eindruck über die Vielfalt des wissenschaftlichen Vermächtnisses und lassen auch die faszinierende Persönlichkeit aufscheinen. Prof. Dr. Kadelbach, Dekan des Fachbereichs Rechtswissenschaften, zeichnet den beeindruckenden akademischen Werdegang von Prof. Simitis nach. Er erinnert an Prof. Simitis’ freundliche und aufmerksame Art, seine Weltoffenheit und einen fabelhaften Mentor und Kollegen. Sehr persönliche Erinnerungen teilt der Frankfurter Rechtshistoriker Prof. Dr. Dr. h.c. Gerhard Dilcher in seiner vermutlich letzten Publikation: An Prof. Simitis’ griechische Herkunft und sein dortiges Aufwachsen im 2. Weltkrieg erinnernd, beschreibt er dessen vielfältige kulturelle Prägungen und sein warmherziges und gewinnendes Wesen, das ihn als Menschen, aber auch als Rechtswissenschaftler und politisch Wirkenden auszeichnete. Prof. Simitis beherrschte die „Klaviatur der Rechtsdogmatik“ (S. 20) meisterhaft, verstand das Recht als Schutz der Schwächeren, und es gelang ihm darüber hinaus, Recht in Politik umzusetzen – immer vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrung mit Diktatur und Machtmissbrauch. Gesellschaftlicher Fortschritt und die Reform rückständiger, unzeitgemäßer (Rechts-)Strukturen waren Prof. Simitis’ primäre Anliegen sowie Triebfedern seines Wirkens, wie Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Manfred Weiss die Kernelemente der spezifischen Arbeitsweise und methodischen Ansätze von Prof. Simitis beschreibt. Wie kein anderer verstand Prof. Simitis es, Wissen und Erfahrung aus anderen Fachrichtungen, Ländern und vergangenen Zeiten zu schöpfen und für die Fortentwicklung des Rechts fruchtbar zu machen. Seine Lösungs- und Reformvorschläge stehen im Dienste des Menschen, setzen Recht als Schutzinstrument für die Selbstbestimmung des Individuums ein – sie zeigen, welch Vordenker, Wegbereiter und wahrer Menschenfreund Prof. Simitis war.
Aufbruchsstimmung der 70er und 80er Jahre
Prof. Dr. Klaus Günther, Goethe-Universität Frankfurt, würdigt die rechtstheoretischen Bezüge Prof. Simitis’ rechtswissenschaftlicher Arbeit. Eindrücklich beschreibt er die Aufbruchsstimmung als den wissenschaftlichen Geist der 70er und 80er Jahre an der Frankfurter Fakultät der Rechtswissenschaften. Diese prägte Prof. Simitis entscheidend mit, aufgrund seines besonderen interdisziplinären Denkens und seiner herausragenden Fähigkeit, andere zu inspirieren und in seinen Bann zu ziehen, die z. B. auch Jürgen Habermas erfasste. Prof. Dr. Achim Seifert, Universität des Saarlandes, erinnert an Prof. Simitis’ vielfältiges Wirken im Arbeitsrecht. Dort hat dieser u. a. den wissenschaftlichen Diskurs im Recht der Mitbestimmung mitgeprägt, indem er sich für die konsequente Öffnung für sozialwissenschaftliche Erkenntnisse einsetzte. So warb er u. a. mit rechtsvergleichenden Argumenten für alternative Formen der Mitbestimmung, die dem deutschen institutionalisierten Mitbestimmungsmodell überlegen und vorzuziehen seien. Die bahnbrechende Wirkung von Prof. Simitis’ interdisziplinärem und internationalem Forschungsansatz zeigt sich auch in seiner Arbeit im Familienrecht.
So erinnert Dr. Christine Hohmann-Dennhardt, Hessische Justizministerin a. D. und Richterin am Bundesverfassungsgericht a. D., daran, dass Prof. Simitis die Erkenntnisse der Psychoanalyse aus einem amerikanisch-britisch-deutschen Konsortium rund um Anna Freud für das deutsche Recht fruchtbar gemacht hat. Indem er die Abkehr von den paternalistischen Strukturen in die Dogmatik überführte, bewirkte er maßgeblich, dass das heutige Familienrecht mit dem Grundgesetz und dessen Vorstellungen von Gleichberechtigung und von Schutz im Einklang steht. Seine Werke zum Recht des Kindeswohls haben dazu verholfen, dass das Kind und sein Wohl heute im Fokus des Elternrechts stehen – wenngleich die Autorin aktuell auch deutlichen Anpassungsbedarf konstatiert und damit ganz im Sinne der Herausgeber und Veranstalter das Fortwirken der Impulse von Prof. Simitis nachzeichnet. Sein letzter Doktorand, Prof. Dr. Vagelis Papakonstantinou, Vrije Universiteit Brussel und Athen, gedenkt Prof. Simitis als überzeugtem Europäer und Kosmopolit, dem es gelang, Verbindungen über den Atlantik hinweg zu etablieren, den Datenschutz in die USA zu bringen, stets zum Wechsel der Perspektive anzuregen und vor allem in Rechtspraxis wie Rechtspolitik zu reüssieren. Mit sehr persönlichen Erinnerungen würdigt Prof. Paul M. Schwartz, UC Berkeley School of Law, den Menschen sowie sein herausragendes Lebenswerk zum Schutz der individuellen Selbstbestimmung und Verteidigung der Demokratie und zeichnet auf einprägsame Weise noch einmal die Zeit am Bockenheimer Campus, aber auch die unverändert große und mitreißende Wirkung des seinerzeitigen Hessischen Datenschutzbeauftragten nach. Prof. Dr. Indra Spiecker genannt Döhmann, LL.M., resümiert abschließend die Kernbotschaft Prof. Simitis’ Vermächtnisses: Die Autonomie des Individuums ist in allen Bereichen des Lebens mithilfe des Rechts gegen Machtasymmetrien zu sichern und zu schützen; eine Aufgabe, die sich fortwährend, immer vor den jeweiligen Entwicklungen, neu stellt.
Prof. Simitis’ Feingeist und Strahlkraft wirken fort, in seinen Werken, in Gesetzen und Rechtsprechung, die seine Handschrift tragen, sowie in den Menschen, die er inspiriert, verbunden und gefördert hat – das zeigen die durchweg lesenswerten und Glanzzeiten der Universität Frankfurt aufrufenden Beiträge des Bandes eindrücklich.
Julia Esser
Julia Esser, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für das Recht der Digitalisierung, Universität zu Köln, und am Center for Critical Computational Studies (C3S), Goethe-Universität Frankfurt