Die Goethe-Universität präsentiert die 100-jährige Geschichte ihrer wissenschaftlichen Sammlungen in der Ausstellung »Ich sehe wunderbare Dinge« im Museum Giersch Die Nerven von Lord Carnarvon müssen aufs Äußerte angespannt gewesen sein, als er im November 1922 nach langer Suche vor der ägyptischen Totenkammer stand.
„Was sehen Sie?“, soll der Finanzier der kostspieligen Grabung der Überlieferung nach dem Archäologen Howard Carter zugerufen haben. Der hatte weiter vorn bereits eine kleine Öffnung in die 3000 Jahre alte Mauer geschlagen, leuchtete nun mit einer Kerze in die Kammer hinein und antwortete: „Ich sehe wunderbare Dinge!“
Er hatte die Grabkammer des Tutanchamun mit all seinen Schätzen entdeckt. 92 Jahre später hat die Archäologin Charlotte Trümpler das überlieferte Zitat aus dem Tal der Könige zum Titel einer einzigartigen Ausstellung gemacht. Rund 400 Objekte aus den wissenschaftlichen Sammlungen der Universität beleuchten aus einer ganz neuen Perspektive die Geschichte der Hochschule seit ihrer Gründung.
Die Funde, die Ausstellungsleiterin Trümpler gemeinsam mit Judith Blume, Vera Hierholzer und Lisa Regazzoni in den rund 40 Sammlungen gemacht hat, sind etwas weniger spektakulär als die goldenen Grabbeigaben des Pharaos. Doch das Staunen über die Schätze aus den Kellern, Dachböden und Archiven der Universität und ihrer Institute dürfte nicht minder groß sein.
Für die Präsentation im Museum Giersch haben die Ausstellungsmacher wunderbare Dinge ausgewählt, miteinander kombiniert und einen neuen Blick auf längst Bekanntes – aber auch auf Vergessenes geschaffen. „Wir möchten Querverbindungen herstellen, neue Assoziationen wecken“, sagt Charlotte Trümpler.
Deshalb hat die ehemalige Leiterin der archäologischen Sammlung des Ruhr-Museums in Essen die Objekte auch nicht nach den jeweiligen Sammlungen geordnet, sondern übergeordnete Themen gefunden. So werden die Objekte in den Museums-Räumen unter anderem den Begriffen Neugier, Glaube, Bewegung, Köpfe, Idealbild, Emotionen, Protest, Gewalt, Zeit und Humor zugeordnet.
Dabei können die Ausstellungsbesucher selbst auf Entdeckungsreise gehen und die 100-jährige Geschichte der Goethe-Universität, ihrer Forscher, Studierenden und Mitarbeiter neu erleben. Zum Beispiel beim Thema Köpfe: Hier hat das Ausstellungsteam Schädel, Totenmasken sowie Rekonstruktionen von Neandertalern mit Karikaturen und Porträts von Wissenschaftlern kombiniert.
Und so kommt es, dass der Zuschauer zum Beispiel den Schädel eines römischen Feldherrn 55 vor Christus mit der Denkerstirn von Max Horkheimer, Schopenhauer oder Goethe vergleichen kann, bevor er sich einem handsignierten Plakatabdruck von Andy Warhol widmet.
Lara Croft und Aphrodite
Einen weiteren Aha-Effekt lösen die Objekte aus, die unter dem Oberbegriff „Idealbild“ gezeigt werden. Ein Vergleich der Statue der vollbusigen Video-Heldin Lara Croft aus dem Jugendkulturarchiv mit der Nachbildung eines Aphrodite-Torsos zeigt überraschende Parallelen – lediglich die Leibesfülle orientierte sich im 3. Jahrhundert vor Christus offenbar an einem etwas anderen Schönheitsbild als die Wespentaille aus der Computerwelt.
Eine ungewöhnliche Möglichkeit zur Perfektionierung des eigenen Körpers bietet ein weiteres Exponat aus dem Jugendkulturarchiv: eine Jacke aus Plastik, die sich an Brust und Hüften aufpusten lässt.
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Die Jubiläumsausstellung
Mehr als 34 Millionen Objekte aus den vergangenen 100 Jahren werden an den Fachbereichen, in der Bibliothek und dem Archiv sowie in verschiedenen Kooperationsinstitutionen der Goethe-Universität aufbewahrt. Rund 400 Exponate wurden für die Ausstellung „Ich sehe wunderbare Dinge“ ausgewählt, die vom 19. Oktober 2014 bis zum 8. Februar 2015 im Museum Haus Giersch am Museumsufer (Schaumainkai 83) zu sehen ist.
Begleitend zur Ausstellung erscheint ein Katalog von rund 400 Seiten mit Beiträgen von 50 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie 40 Studierenden. In eigens für die Ausstellung hergestellten Filmen erzählen Wissenschaftler und Studierende die Geschichte „ihrer“ Objekte – und präsentieren damit auch neue Perspektiven auf Vergangenheit und Gegenwart der Hochschule.
Einen besonderen Zugang zu den Sammlungen der Universität bietet eine Online-Plattform, die im Rahmen der Lehrveranstaltung „sammeln, ordnen, darstellen“ am Forschungszentrum für historische Geisteswissenschaften entwickelt wurde. Hier präsentieren Studierende anhand von Objekterzählungen die wissenschaftlichen Sammlungen der verschiedenen Uni-Fachbereiche.
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Schon im 19. Jahrhundert wurde „gepumpt“
Zu diesem Schönheits- und Perfektionierungsdrang hätte auch „Zanders Widerstandsgerät“ gepasst, das die Ausstellungsmacherinnen jedoch aus nachvollziehbaren Gründen dem Begriff „Bewegung“ zugeordnet haben. Das Trainingsgerät aus dem Jahr 1900 stammt aus der Sammlung der Orthopädischen Universitätsklinik und gehört zu den kuriosesten Exponaten.
„Fitnessgeräte sind keineswegs eine Erfindung der letzten Jahrzehnte“, sagt Charlotte Trümpler. Auch die Kuratorin war überrascht, als sie das Gerät zur Rückenstärkung aus Eisen, Holz und Leder entdeckte, das den sportlichen „Folterinstrumenten“ moderner Mucki-Buden durchaus ähnelt. Ende des 19. Jahrhunderts hatte es der schwedische Physiotherapeut Gustav Zander entworfen.
Angepriesen von den Berufsgenossenschaften, wurde das Gerät vor allem von den höheren Schichten genutzt. Denn schon damals verursachte ein zunehmender Bewegungsmangel offenbar Haltungs- und Rückenschäden.
2,4 Millionen Jahre alter Unterkiefer
Weitere Highlights können Besucher gleich zum Einstieg in die Ausstellung entdecken.
Dazu gehört der Unterkiefer mit Zähnen eines Homo rudolfensis, der 1991 in Malawi gefunden wurde. „Ein sensationeller Fund, sagt Kuratorin Charlotte Trümpler. Das Stück aus der Paläoantropologischen Sammlung am Forschungsinstitut Senckenberg ist rund 2,4 Millionen Jahre alt – und damit der älteste Nachweis eines Menschen.
Weit jünger und eng verknüpft mit der Geschichte der Goethe-Universität ist das berühmte Schopenhauer-Sofa, auf dem der Philosoph 1860 starb. Besonders kurios fand Ausstellungsmacherin Charlotte Trümpler „verrückte Dinge“ aus der Universitätsklinik – oder in diesem Fall besser: verschluckte Dinge.
Gezeigt werden Löffel – und Messerfragmente sowie Schrauben, die ein Häftling in den 1930er Jahren gegessen hatte. Durch eine Operation überlebte der Mann den Selbstmordversuch – offenbar starb er jedoch, nachdem er bei einer zweiten Verzweiflungstat ein Messer und eine Gabel zu sich nahm.
Gefunden wurden die Objekte zusammen mit den entsprechenden Röntgenaufnahmen im Institut für Rechtsmedizin. Einen neuen Blick bietet die Ausstellung auch auf die Proteste der 1960er Jahre, in denen Frankfurt neben Berlin einer der wichtigsten Schauplätze der Studentenbewegung war.
Neben hoch politischen studentischen Flugblättern und theoretischen Schriften aus dem Archivzentrum der Unibibliothek zeigt unter anderem eine Rechnung an das Institut für Sozialforschung den banalen Alltag der Revolution. Die Frankfurter Glaserei Link berechnet darin im Jahr 1968 „277,75 Mark für Reparaturen nach Steinwürfen“.
Kurios aus dieser bewegten Zeit ist auch das Etui aus Leder und Samt, in dem sich eigentlich die Amtskette des Universitäts-Rektors befinden müsste. Doch von dem Insigne der Macht ist nur ein schwacher Abdruck in der leeren Hülle geblieben. Vermutet wird, dass die Kette von demonstrierenden Studenten damals entwendet wurde – gesichert ist das aber nicht.
Vielleicht taucht sie zum 200. Geburtstag der Universität wieder auf, wenn künftige Kuratoren für eine neue Ausstellung wunderbare Dinge aus den Archiven, Kellern und Dachböden hervorzaubern. [Autorin: Katja Irle]