Marcel Beyer zählt ohne Zweifel zu den prominentesten und vielseitigsten Stimmen der zeitgenössischen Literatur. Einem größeren Publikum ist er vor allem durch seine lyrischen Arbeiten und seine Romane bekannt geworden. Geboren wurde Beyer am 23. November 1965 im baden-württembergischen Taiflingen, aufgewachsen ist er in Kiel und Neuss. Aktuell lebt er, auch in dieser Hinsicht ein Grenzgänger zwischen verschiedenen Welten, in Dresden.
Bereits während des Studiums der Germanistik, Anglistik und Literaturwissenschaft an der Universität Siegen machte er als Herausgeber der Reihe Vergessene Autoren der Moderne (gemeinsam mit Karl Riha) und als Autor eines Gedichtbandes mit dem Titel Walkmännin aus dem Jahre 1990 auf sich aufmerksam. Die Veröffentlichung seines ersten Romans Das Menschenfleisch 1991 sicherte ihm früh ein größeres Publikum, das er in den neunziger Jahren auch durch journalistische Arbeiten, etwa für das Kölner Musikmagazin Spex, erreichte.
Seinen Durchbruch zu einem der angesehensten Schriftsteller der Gegenwart feierte er 1995 mit dem bei der Kritik wie dem Publikum gleichermaßen erfolgreichen Roman Flughunde, der mit zahlreichen Preisen, u. a. dem Berliner Literaturpreis (1996) und dem Uwe- Johnson-Preis (1997) ausgezeichnet wurde. Parallel zu Flughunde entstanden, erschien 1997 ein zweiter Gedichtband mit dem Titel Falsches Futter. In beiden Werken geht es um eine Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus aus einer medientheoretischenund geschichtlichen Perspektive, die Filme, Photographien u. a. in das literarische Arbeiten miteinbezieht.
Flughunde wurde in mehrere Sprachen übersetzt und setzte einen neuen Maßstab des Erzählens in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Es folgten 2001 die Essaysammlung Nonfiction und die Erzählung Vergeßt mich (2006) sowie 2012 der Erzählband Putins Briefkasten, der bislang unveröffentlichte Skizzen und Denkbilder versammelt. Seinen Ruf als einer der herausragenden und zugleich experimentierfreudigsten Romanciers der Gegenwart festigte Beyer mit den auf Flughunde folgenden Romanen Spione (2000) und Kaltenburg (2008), die zusammen so etwas wie eine Chronik der Nachkriegszeit im geteilten Deutschland bilden.
Gemeinsam ist allen Romanen Beyers ein Gespür für die Form, eine Genauigkeit des Erzählens, in denen sich Fiktion, Geschichte und Medialität zu einer Einheit verbinden, die in der Literatur der Gegenwart ihresgleichen sucht. Für seine literarischen Arbeiten ist Beyer mit zahlreichen Preisen gewürdigt wurden, u. a. mit dem Heinrich- Böll-Preis (2001), dem Erich-Fried- Preis (2006) sowie, in jüngster Zeit, mit dem Kleist-Preis (2014), dem Oskar-Pastior- Preis (2014) und dem Literaturpreis der Stadt Bremen (2015).
2014 ist sein Lyrikband Graphit erschienen, der Gedichte der letzten dreizehn Jahre versammelt und von den Feuilletons enthusiastisch als souveräne Fortführung der früheren lyrischen Arbeiten begrüßt wurde. Wie auch in den Romanen spielt die Auseinandersetzung mit der Literatur der Klassischen Moderne und der Gegenwart, verkörpert etwa durch Figuren wie Georg Trakl, Gottfried Benn, Robert Musil, Elias Canetti und Thomas Kling, eine zentrale Rolle in den Gedichten, die zugleich mit musikalischen Formen spielen und so einen spezifischen Marcel-Beyer-Sound prägen.
Die seltene Mischung des Lyrikers und Romanciers gibt Marcel Beyers Schaffen damit eine eigentümliche Prägung: als Romanautor über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt, harren seine Gedichte, die oft auf Freunde und Vorbilder wie Friederike Mayröcker oder Thomas Kling rekurrieren, noch der Entdeckung durch ein großes Publikum. Die Frankfurter Poetikvorlesung gibt so auch die Möglichkeit, die vielen Facetten des Schreibens von Marcel Beyer neu zu entdecken.
Interesse am wissenschaftlichen Forschen Denn Marcel Beyers Schreiben beschränkt sich nicht auf das Experimentieren mit Sprache in Lyrik und Prosa. Seine vielseitigen Interessen zeigen sich u. a. in zwei Opernprojekten mit dem Komponisten Enno Poppe (Interzone, Berliner Festspiele 2004 und Arbeit Nahrung Wohnen, Münchener Biennale 2008) sowie in öffentlichen Gesprächen mit Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen, die nahtlos in Beyers literarische Texte einfließen.
So war er 2008 als ‚Writer in Residence‘ am Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte eingeladen, um den Dialog zwischen der Literatur und den Naturwissenschaften zu fördern. Marcel Beyer ist einer der experimentierfreudigsten Schriftsteller der Gegenwart, der nicht nur den Ausdrucksmöglichkeiten von Literatur, Bildender Kunst, Musik und Sprache nachgeht, sondern auch unterschiedliche Formen des wissenschaftlichen Forschens, z. B. aus der Zoologie im Rahmen der übergreifenden Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Tier, in seine Arbeiten integriert.
Nachdem er mit dem 2015 erschienen Band XX – Lichtenberg-Poetikvorlesungen bereits einen ersten poetologischen Text vorgelegt hat, der auf seine Auszeichnung als Lichtenberg- Poetikdozent an der Universität Göttingen 2014 zurückgeht, nimmt er in Frankfurt die Gelegenheit wahr, seine poetologischen Reflexionen im Zeichen des Dialogs von Literatur, anderen Künsten und den Wissenschaften weiter auszubauen. Die Goethe-Universität Frankfurt freut sich, mit Marcel Beyer einen der renommiertesten Schriftsteller der Gegenwart für die Poetik-Dozentur gewonnen zu haben. [Autor: Achim Geisenhanslüke]
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Stiftungsgastdozentur für Poetik an der Goethe-Universität im Wintersemester 2015/16
Marcel Beyer, „Das blinde (blindgeweinte) Jahrhundert“. Termine: 12./19./26. Januar; 2./9. Februar 2016, Campus Westend, Hörsaalzentrum HZ 1&2, 18 Uhr. Abschlusslesung am 10. Februar im Literaturhaus Frankfurt, Begleitausstellung im „Fenster zur Stadt“.[/dt_call_to_action]