Köln: Was hat das mit dem Islam zu tun?

Köln und die Folgen: Worin liegen die Ursachen für die Gewaltdelikte und sexuellen Belästigungen von Frauen? Zum Abschluss der UniReport-Reihe hat die Rechtsanwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ateş einen Essay verfasst.

Köln: Junge Männer und sexuelle Übergriffe – Was hat das mit dem Islam zu tun? Von Seyran Ateş

In der Silvesternacht 2015/2016 kam es um den Kölner Dom herum und, wie sich später herausstellte, auch in anderen Städten zu überdurchschnittlich vielen sexuellen Belästigungen und einer Vergewaltigung. Mittlerweile ist gesichert, dass die Täter alle aus dem nordafrikanischen oder arabischen Raum stammen und höchstwahrscheinlich Muslime sind. Jedenfalls kommen sie unstreitig aus Verhältnissen, in denen sie islamisch sozialisiert wurden. Diese Tatsache auszusprechen wird schon als rassistisch und islamfeindlich bezeichnet, weil man bei sexuellen Übergriffen durch urdeutsche Männer und Nichtmuslime keinen entsprechenden Hinweis geben würde.

Aus solchen Anlässen immer wieder eine sehr vereinfachte Kolonialismus-Debatte zu entfachen ist schon eine reife Leistung. In Zeiten der Globalisierung und der Tatsache, dass die Welt nicht in Flüchtling/ Migrant = gut, Urdeutsch = schlecht oder umgekehrt einzuteilen ist, sollten sich doch gerade Feministinnen und Frauenrechtlerinnen die Frage stellen, ob sie nicht ein wenig über das Ziel hinausschießen, wenn sie jeden Hinweis auf die besondere Herausforderung und Situation mit konservativen muslimischen Männern in der freien Welt weiterhin als rassistisch abtun wollen.

Akademischer Diskurs und Praxis

Hinter ihrem Schreibtisch fühlt sich alles offensichtlich anderes an, als Millionen von Frauen in islamischen Ländern und Musliminnen in Deutschland erleben und erfahren. Oder noch einfacher, fahren Sie einfach U-Bahn in Berlin vom Wedding nach Neukölln und befragen junge Frauen aus allen Kulturen und Religionen. Fragen Sie nach, ob sie sich inzwischen anders kleiden und wie oft sie am Tag von wem belästigt werden? Ich weiß, im akademischen Diskurs hat man wenig übrig für Berichte aus der Praxis, die nicht durch Studien und Statistiken belegt sind. Daher mein zweiter Vorschlag: Fahren Sie mehrere Monate regelmäßig U-Bahn vom Wedding nach Neukölln und zurück und befragen so viele junge Männer und Frauen, wie Sie benötigen, um Ihren wissenschaftlichen Anforderungen zu genügen. Vergessen Sie bitte nicht nachzufragen, ob die Mütter die Töchter bitten, sich nicht mehr so offen zu kleiden? Unsere Gesellschaft verändert sich. Ich mache mir Sorgen um bereits errungene Rechte der Frauen.

Die Haltung von vielen westlichen Feministinnen ist aus der islamischen Welt betrachtet sehr irritierend. Wobei sie natürlich auch Verbündete finden. Die so entstehenden Koalitionen, die sich am Rassismus und der Islamfeindlichkeit des Westens abarbeiten, sind mitunter nicht weniger irritierend: Feministinnen und ultraorthodoxe Muslime vereint im Kampf gegen den arroganten Westen, mit seinen sogenannten Freiheiten, die keine sind. Aus den fürchterlichen Ereignissen der Silvesternacht die Lehre zu ziehen, Flüchtling = Muslim = sexhungrig = Vergewaltiger ist ebenso falsch und reduziert das Ereignis nicht weniger auf das, was manch eine westliche Feministin und Linke gerne machen: die Flüchtlinge/Migranten auf eine Seite und die Urdeutschen auf die andere Seite zu stellen, nur mit anderen Vorzeichen. Beide Positionen führen geschickt am eigentlichen Problem vorbei in Abgrenzung und Diskriminierung. Diese beiden extremen Positionen haben dazu geführt, dass AFD und Pegida so stark werden konnten.

Differenzieren, nicht relativieren

Denn die schwierigere Aufgabe ist es, in der Bewertung der Realitäten unserer pluralen, multikulturellen Gesellschaft, unter Beachtung von allem, was bereits im Namen der Freiheit und Gleichberechtigung erreicht wurde, gerecht zu werden. Die multikulturelle Gesellschaft mit all ihren Farben und Facetten zu erkennen, um Lösungsansätze an die richtige Stelle zu setzen, ohne Rassisten und Islamfeinden das Wort zu reden. Den Kampf gegen muslimische Machos, Ewiggestrige und Frauen zu führen, die in archaischen Verhältnissen leben wollen, ist viel schwieriger, als den konservativen Muslimen das Wort zu reden, während man/frau für sich im Westen immer mehr Freiheit und Gleichberechtigung der Geschlechter einfordert. Es ist natürlich sehr viel einfacher, die Diskussion abzuwürgen, indem man den Ball dem Westen/ Europa zuwirft und sagt, kümmere dich erst um deine eigenen Vergewaltiger und Sexisten, bevor du dir anmaßt, muslimische junge Männer als durch Testosteron gesteuerte Bomben und somit als Sicherheitsrisiko zu verurteilen. Die Frage nach dem Haupt- und Nebenwiderspruch bleibt ein Problem der Linken und Intellektuellen.

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Natürlich stinkt es zum Himmel, wenn plötzlich die Reform des Sexualstrafrechts in einem rasanten Tempo vorangetrieben und höchstwahrscheinlich in diesem Jahr verabschiedet wird. Natürlich haben wir diesen Umstand der Silvesternacht und den Übergriffen durch junge muslimische Männer an deutschen Frauen zu verdanken. Dennoch erlaubt uns diese Tatsache nicht, ebenso verkürzt zu denken, wie offensichtlich unsere Parlamentarier es tun. Man kann nicht oft genug um Differenzierung und Zurückhaltung bitten. Dennoch ist es falsch, nach gewohnter Manier zu relativieren und zu ignorieren, dass nordafrikanisch und arabisch aussehende Männer klipp und klar aus einer frauenfeindlichen Haltung heraus gehandelt haben und dies tatsächlich auch mit ihrem kulturellen und religiösen Hintergrund im Zusammenhang steht. Sie haben die Gunst der Stunde ausgenutzt, um Frauen anfassen zu können, wie sie es jährlich am Taksimplatz in Istanbul und anderen Orten dieser Welt auch tun. Wenn das jemand mit ihren „eigenen“ Frauen machen würde, würden sie zu Mördern werden. Diese Feinheit entgeht leider manch einem, der in der Analyse der Silvesternacht nur eine Frustentladung muslimischer Jungs sieht, weil sie von der deutschen Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzt und diskriminiert ohne Chance auf eine berufliche Karriere dastehen würden. Warum dann gerade jetzt?

Debatte über gemeinsame Werte notwendig

Die sexuellen Übergriffe haben hier in Europa genauso zugenommen, wie in den letzten 20 Jahren in den islamischen Ländern. Wie gesagt, unsere Gesellschaften ändern sich. Darauf müssen wir mit vernünftigen Konzepten reagieren und aufhören, den Opferstatus der Zugezogenen in Stein zu meißeln. Wie schaffen wir es also, über kulturelle Unterschiede, Machokultur und Frauenhass zu sprechen, ohne sämtliche männliche Migranten und den Islam unter Generalverdacht zu stellen und zu verhöhnen? Wie schaffen wir es, endlich gemeinsam – Zugezogene und Einheimische – an Lösungen zu arbeiten, anstatt immer wieder Ist-Zustände zu beschreiben und jede Kritik abzuwehren? Dazu gehört, dass endlich eine ehrliche Debatte über gemeinsame Werte und Wertevermittlung geführt wird. Dazu gehört eben auch und vor allem eine Debatte über die Gleichberechtigung der Geschlechter und das individuelle Selbstbestimmungsrecht der Frauen.

Junge Männer, die in Gruppen auftreten und unter Alkoholeinfluss Frauen nur als Sexualobjekt betrachten, gibt es überall auf der Welt. Sei es beim Karneval in Brasilien, auf dem Oktoberfest in München oder im Bus in Indien. Frauen wissen, wie gefährlich Männer sein können, weltweit. Soweit so gut. Wir leben in einer patriarchalen Welt, in der sich die Macht der Männer oft durch sexualisierte Gewalt zeigt. Nebenbei bemerkt, wo waren eigentlich die urdeutschen Männer, als die Frauen belästigt wurden, und was haben sie getan? Sollen Frauen tatsächlich lernen, Männern aus dem Weg zu gehen, damit sie nicht belästigt werden? Wir brauchen mehr öffentliche verantwortungsbewusste Debatten über das Frauenbild von bestimmten muslimischen Männern. Nämlich eines voller Frauenverachtung, eines, das Frauen zum Besitz erklärt, Frauen zu Freiwild macht. Wir brauchen auch sehr viel mehr öffentliche Debatten über die Sexualmoral und Unterdrückung der Sexualität in der islamischen Welt und das Männerbild, mit dem diese Muslime aufwachsen. Dies müssen wir endlich tun, ohne Ausgrenzung, ohne rechte Vollpfosten zu bedienen, ohne den Islam, meine Religion, zu der ich stehe, in den Dreck zu ziehen und der Dummheit von Ewiggestrigen in die Hände zu spielen.

Gleichberechtigung statt Geschlechtertrennung

Nur wir Muslime können für ein besseres Bild in der Öffentlichkeit sorgen. Wir müssen die schwarzen Schafe in unserer Mitte ächten und sie an die Scham erinnern, fremde Frauen nicht anzufassen, die ihnen abhandengekommen ist. Die Scham, die ein Teil unserer Kultur, unseres Glaubens und unserer Religion ausmacht. Solche Männer sind eine Schande für die Menschheit, sie schaden aber am meisten uns Muslimen. Sie haben eine Erziehung genossen, die auf eine strikte Geschlechtertrennung in der Gesellschaft ausgerichtet ist, auch in Deutschland. Unter diesen Umständen ist es keinesfalls übertrieben, nach so einem Vorfall, über den Islam und das Frauenbild im Islam zu diskutieren. Sage ich damit, dass die Frauen im Westen volle Gleichberechtigung erlangt haben? Dass Feministinnen im Westen alles erreicht haben? Nein, natürlich nicht. Aber wir sind einfach schon sehr viel weiter. Ich sage, dass wir auf die gesellschaftlichen Realitäten in islamischen Ländern schauen müssen, wenn wir Konzepte für das Zusammenleben der Religionen entwickeln wollen. Wir sollten wissen, was wir ganz sicher nicht wollen: nämlich eine nach Geschlechtern getrennte Welt. Frauen werden bei bestimmten Muslimen mehrheitlich als Sexualobjekte, als Besitz und Last betrachtet. Wer das leugnet, schützt uns nicht vor den Nazis, sondern spielt den Islamisten zu, die sich gegen die sexuelle Revolution in der islamischen Welt zur Wehr setzen.

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Seyran Ateş; Foto: Privat
Seyran Ateş; Foto: Privat

Über die Autorin

Seyran Ateş ist eine deutsche Rechtsanwältin, Autorin und Frauenrechtlerin türkisch-kurdischer Herkunft. Als Anwältin in Berlin befasst sie sich hauptsächlich mit Familienrecht und hat sich in der deutschen Integrationspolitik engagiert. Seyran Ateş war Mitglied der Deutschen Islamkonferenz und hat am Integrationsgipfel der Bundesregierung teilgenommen.

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Dieser Artikel ist in der Ausgabe 4-2016 des UniReport erschienen [PDF].

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