Interdisziplinäre Erforschung der „Dormanz“

Der US-amerikanische Biologe Jay T. Lennon ergründet gemeinsam mit dem Mathematiker Jochen Blath die sog. Keimruhe von Lebewesen. Ein Humboldt-Forschungspreis ermöglicht Lennon den sechsmonatigen Aufenthalt.

Jochen Blath (links) und Jay T. Lennon (rechts).

Im Grunde genommen ist es immer das Gleiche: Wenn der Milzbrand-Erreger Bacillus anthracis in seinem Inneren äußerst wider­standsfähige und langlebige Sporen bildet, die in ihrem Ruhezustand Zehntausende von Jahren Bedingungen aushalten können, mit denen Bacillus anthracis nicht fertig würde. Wenn die einjährige Pflanze „Silberblatt“ (Gattung: Lunaria) Samen produziert, von denen ein gewisser Anteil verzögert auskeimt: nicht schon im darauffolgenden, sondern frühestens im zweiten Jahr. Wenn weibliche Krebstiere der Gattung Daphnia, die sich normalerweise eingeschlechtlich fortpflanzen, unter Stress erst Männchen und anschließend Dauereier produzieren.

Wenn Darmbakterien der Gattung Bacteroides zwischen Aktivität und ihrem Ruhezustand wechseln können, ohne dass sie zusätzliche physische Strukturen ausbilden. Wenn Igel und Murmeltiere Winterschlaf halten. Ebenso, wenn winzige Bärtierchen (Tardigrada) in den Ruhezustand umschalten, sodass sie sogar im lebensfeindlichen Weltall, auf der Außenseite der internationalen Raumstation ISS überdauern können.

So unterschiedlich die Strategien vieler Lebewesen im Einzelnen aussehen, eines haben sie gemeinsam: Zeitweise ist der Stoffwechsel der Lebewesen quasi auf Null heruntergefahren, zwischen dem Organismus und seiner Um­gebung gibt es keine Wechselwirkung  – in einem Wort: „Das sind Dormanz-Strategien“, sagt der US-amerikanische Biologe Jay T. Lennon von der University of Indiana in Bloomington.

„Im ‚tree of life, der die stammesgeschichtlichen Beziehungen aller Lebewesen abbildet – seien es Tiere, Pflanzen, Mikroben oder andere – finden wir hier ein wichtiges Beispiel für ‚konvergente Evolution“, erläutert Lennon, „zahlreiche Spezies haben also unabhängig voneinander Dormanz-Strategien entwickelt.“ Er beschäftigt sich seit fast 15 Jahren mit Dormanz-Phänomenen, arbeitet dabei insbesondere seit 2019 mit dem Mathematiker Jochen Blath zusammen, der seit 2022 eine Professur an der Goethe-Universität innehat. Und nachdem die Alexander von Humboldt-Stiftung ihn mit einem Humboldt-Forschungspreis ausgezeichnet hat, verbringt Lennon derzeit einen sechsmonatigen Forschungsaufenthalt in Blaths ­Arbeitsgruppe.

Überlebensstrategie

„Eine Dormanz-Strategie zu entwickeln, bedeutet für einen Organismus zunächst einen großen Aufwand. Es ist gewissermaßen mit hohen ‚Kosten verbunden, weil er immer die Fähigkeit zu den erforderlichen ‚Umbaumaßnahmen bereitstellen muss. Aber das zahlt sich letztlich für ihn aus, weil es langfristig dazu beiträgt, das Überleben der Art sicherzustellen“, stellt Blath klar und führt als Beispiel dafür an, dass manche Pflanzen trotz optimaler äußerer Bedingungen das Auskeimen ihrer Samen um ein oder mehrere Jahre verzögern: Wenn anschließend nämlich widrige Umstände wie zum Beispiel Feuer oder Dürre die Pflanzenpopulation vernichteten, könnten in späteren Jahren aus den noch vorhandenen Samen neue Pflanzen heranwachsen. „Die Samen, deren Keimung verzögert wurde, oder allgemein: Der ruhende (= dormante) Anteil einer Population bildet also eine Art ‚Erbgut-Reservoir“, fügt Lennon hinzu.

Sei es, dass der Biologe Lennon untersuchte, wie viele unterschiedliche Arten von Lebewesen jeweils Teil des „Erbgut-Reservoirs“ eines Systems von Organismen sind und wie häufig die Arten jeweils vorkommen, sei es, dass der Mathematiker Blath modellierte, wie der Mechanismus des Wechsels (zum Beispiel „spontan oder durch bestimmte Reize induziert?“ und „koordiniert oder jeder Organismus unabhängig?“) sich langfristig auf ein Dormanz-System auswirkt: Beide haben sich intensiv mit der Struktur solcher „Erbgut-Reservoirs“ beschäftigt, seit ihre Zusammenarbeit 2019 damit begonnen hat, dass Blath zusammen mit anderen Mathematikerinnen und Mathematikern einen Workshop über das (für ihn damals: neue) Thema „Dormanz“ veranstaltete, zu dem er Lennon als Experten für die biologischen Grundlagen eingeladen hatte.

Zusammenspiel unterschiedlicher Fachkulturen

„Schon damals fand ich die Souveränität bewundernswert, mit der sich Jay als Biologe vor einen Saal voller Mathematiker stellte und geduldig all unsere laienhaften Biologie-Fragen beantwortete“, erinnert sich Blath; gleichzeitig scheue Lennon nicht davor zurück, sich eingehend nach mathematischen Zusammenhängen zu erkundigen. Auch der Biologe ist von der gemeinsamen Arbeit begeistert und hebt hervor, dass der andere fachliche Hintergrund, die dementsprechend eigene Herangehensweise, die unterschiedlichen Fachkulturen im wissenschaftlichen Alltag durch das gemeinsame Interesse „Dormanz“ mehr als aufgewogen würden: „Diese Synergieeffekte sind faszinierend“, kommentiert Lennon.

In einer niederländisch-US-amerikanisch deutschen Kooperation haben Lennon und Blath zunächst herausgearbeitet, wie in einem System von Individuen, die auf einfache Weise miteinander wechselwirken, aus den simplen Vorgaben für diese Wechselwirkung (A frisst B, C und D haben die Nachkommen E und F, …) sowie für das Umschalten zwischen aktivem und dormantem Zustand ein äußerst komplexes Verhalten des gesamten Systems erwachsen kann: „Aus einfachen Regeln auf der Mikroebene entstehen auf der Ebene ganzer Populationen und großer Zeiträume viele Phänomene, die für uns Stochastiker hochspannend sind“, erläutert Blath, „das bedeutet, kleine Unterschiede im Fortpflanzungsverhalten führen möglicherweise dazu, dass in einer großen Population andere Merkmale ausgebildet werden oder dass diese Population früher oder später oder gar nicht ausstirbt.“

Für Dezember 2023 haben Lennon und Blath geplant, in einem zweiten Workshop – dieses Mal an der Goethe-Universität – wiederum Dormanz-Forschende zusammenzubringen. Allerdings solle dann nicht ein einzelner Biologe auf eine ganze Gruppe von Mathematikern treffen, hebt Blath hervor, sondern „Mathematikerinnen und Mathematiker werden sich mit ungefähr gleich vielen Forschenden aus anderen Wissenschaftsdisziplinen zusammensetzen, um konkrete Bereiche zu identifizieren, in denen Dormanz-Phänomene auftreten.“ Und Lennon betont: „Für unsere Forschung zeichnet sich schon jetzt eine Agenda ab, die zumindest in den nächsten zehn Jahren randvoll ist.“

So beabsichtigen Blath und Lennon für den Frankfurter Workshop, Dormanz-Phänomene in vier Sektionen zu erörtern: „Statistische Physik“, „Populationsgenetik und Evolution“, „Ökologie und Biodiversität“ sowie „Medizin“. Insbesondere in der Infektiologie und in der Onkologie (Krebsforschung) sieht Blath dabei ein mögliches, attraktives Anwendungsfeld für die mathematische Beschreibung von Dormanz-Phänomenen: So wechseln die Erreger einer chronischen Infektion vermutlich zeitweise in den dormanten (= inaktiven) Zustand; zwischen dem Krankheitskeim und seiner Umgebung besteht dann keine Wechselwirkung mehr, selbst ein Antibiotikum kann nicht mehr auf ihn einwirken. Ähnliches passiert, wenn Krebszellen in den dormanten Zustand übergehen und folglich ein Chemotherapeutikum wirkungslos wird. „Wir wollen also mathematische Modelle von Zell-Populationen erstellen, die sowohl aktive als auch dormante Krebszellen enthalten,“ sagt Blath; das könne vielleicht dazu beitragen, Therapiepläne effektiver zu gestalten.

Insofern wird vor allem die Dormanz-­Forschung vom Humboldt-Preis für Jay T. Lennon profitieren, ermöglicht dieser es doch, dass Blath und Lennon viel intensiver zusammenarbeiten, weil Videokonferenzen anstelle von persönlichen Begegnungen nicht nötig sind – ihre Büros sind derzeit schließlich nicht 8500 km, sondern gerade einmal sechs Stockwerke voneinander entfernt.

Stefanie Hense

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