Der öffentliche Gebrauch der Vernunft. Jürgen Habermas wird 95 Jahre alt

Von Rainer Forst

Am 18. Juni wird Jürgen Habermas, der die Geistes- und Sozialwissenschaften der Goethe-Universität nachhaltig geprägt hat, 95 Jahre alt, und dazu sendet unsere wissenschaftliche Community, der er nach wie vor aktiv angehört, die herzlichsten Glückwünsche. Bis heute ist Habermas‘ wissenschaftliche und intellektuelle Stimme national und international eine der meistgehörten, und wir wünschen von Herzen, dass es noch lange so bleiben möge.

Zu seinem 90. Geburtstag hielt Jürgen Habermas einen Vortrag an der Goethe-Universität.

Wir erinnern uns mit großer Freude an den 90. Geburtstag, den die Normativen Ordnungen an unserer Universität ausrichteten und an dem Jürgen Habermas uns mit einem großen Vortrag, seinem letzten öffentlichen, beschenkte. Unter dem Titel „Noch einmal: Zum Verhältnis von Moralität und Sittlichkeit“ ließ er die großen geschichtsphilosophischen Entwürfe von Kant, Hegel und Marx Revue passieren und setzte sie zu seiner eigenen Philosophie in Beziehung. Er zeichnete die Überlegungen der drei Großen, die sein Denken stark bestimmt haben, bezüglich der Frage nach der Vernunft in der Geschichte nach und verlieh seiner letztlich moralisch begründeten Hoffnung Ausdruck, dass die Vernunft ihre Arbeit an einer Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse niemals, trotz aller Enttäuschungen, die der Lauf der Dinge bereithält, aufgeben darf. Dies schon um derer willen nicht, deren Kampf für Gerechtigkeit nicht vergebens gewesen sein soll, und angesichts der Vielen nicht, die unter Ungerechtigkeit leiden.

Dabei ist es in erster Linie Kant, dessen 300. Geburtstag wir im Frühjahr feierten, auf den Habermas sich beruft, wenn er an dem Imperativ festhält, die Zeiten, in denen wir leben, durch den „öffentlichen Gebrauch der Vernunft“ aufzuklären, also im Diskurs der Betroffenen selbst. Das ist sein Lebensthema, das sich durch all seine Schriften zieht: Emanzipation durch kommunikative Vernunft, die die Anstrengung auf sich nimmt, ihre eigenen, auch sozial und systemisch verursachten Blockaden zu erkennen und zu überwinden. Mit Hegel hält Habermas freilich daran fest, dass diese Arbeit sich vergangener Lernprozesse versichern muss, um daraus Orientierung und Ermutigung zu gewinnen. Und mit Marx schließlich besteht er darauf, dass es die Aufgabe der Philosophie und der Wissenschaften insgesamt ist, das individuelle und soziale Leben nicht nur zu verbessern, sondern von den Beschränkungen zu befreien, die ideologisch als naturgemäß und unabweislich verklärt werden. Dabei arbeitet die Vernunft wie ein „Maulwurf“, und zwar „im Modus der fehlbaren (…) Lernprozesse der vergesellschafteten Subjekte selber“.

Mehr als 3000 Menschen verfolgten damals den Vortrag, und er bewies, auf welch besondere Weise Habermas das Denken der die Frankfurter Universität kennzeichnenden kritischen Theorie verkörpert: Ein Denken, das theoretisch umfassend fundiert ist, und zwar in einem Zusammenspiel von Philosophie und Sozialwissenschaften, und zugleich praktisch orientiert ist, ohne die Komplexität der Vermittlungsstufen zwischen Theorie und Praxis zu verkennen. Habermas‘ Werk ist auch in dem Sinne einzigartig, dass er diese Vermittlung auf den Begriff bringt und sie zugleich mit seinen öffentlichen Interventionen praktiziert. Auch in den letzten Jahren hat er sich zu zentralen Fragen unserer Zeit pointiert zu Wort gemeldet – ob es das Schicksal Europas ist, die Weichenstellungen der Pandemiebekämpfung, der von Russland entfesselte Krieg in der Ukraine oder die Situation, die nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 nicht zuletzt in Deutschland entstanden ist.

Am Ende seines denkwürdigen Vortrags ließ Habermas die drei Perioden seines wissenschaftlichen Lebens, die er in Frankfurt verbrachte, kurz vorüberziehen: die Zeit als Assistent Adornos in der zweiten Hälfte der Fünfziger Jahre, die Zeit als Nachfolger Horkheimers auf dessen Professur in den Sechzigern und schließlich die Rückkehr in den Achtzigern nach Beendigung der Direktorenschaft des Max-Planck-Instituts in Starnberg. Die letzte Periode bezeichnete er als die „befriedigendste Zeit meines akademischen Lebens“ in der „freien Luft“ der Goethe-Universität, und er wünschte uns allen mit Blick auf die Gegenwart, dass der besondere, offene und kritische Geist, der diese Universität bis heute prägt, auf dem neuen Campus Westend sprießen und seine „schützenden Nischen“ finden möge. Dem sehen wir uns in unserer Arbeit verpflichtet, denn die Fragen, die wir als Schüler*innen und Kolleg*innen von Habermas mit ihm behandelt haben, insbesondere die nach der Zukunft der Demokratie, lassen uns nicht ruhen.

Seine jüngsten Werke nehmen diese Fragen auf und geben seinem Denken eine neue Wendung, wie es sich für eine Philosophie mit, wie Adorno es formulierte, „Zeitkern“ gehört. Im Anschluss an seinen Geburtstagsvortrag versammelten sich seinerzeit seine wichtigsten Weggefährt*innen zu einer zweitägigen Konferenz, um das im Erscheinen begriffene monumentale zweibändige Werk Auch eine Geschichte der Philosophie zu diskutieren. Auf eine Weise, die nur Habermas eigen ist, verfolgt er im Durchgang durch die Geschichte der westlichen Philosophie eine zentrale Idee, die in der Tradition der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno steht: die Kritik einseitiger Formen der Rationalität, die zu reduktionistischen Vorstellungen gesellschaftlicher Interaktion oder individuellen Handelns führen. In der Reflexion auf die Gefahren einer „entgleisenden Moderne“ spielt in diesem Buch der Dialog zwischen philosophischer Vernunft und religiösem Glauben eine entscheidende Rolle. Habermas rekonstruiert historisch bedeutsame Übersetzungsleistungen von der religiösen in eine säkulare Sprache, so in Bezug auf den Begriff der menschlichen Würde, fordert zugleich aber dazu auf, etwa angesichts bioethischer Herausforderungen diese Übersetzungsarbeit nicht als abgeschlossen zu betrachten. Das von Habermas ausgezeichnete „nachmetaphysische“ Denken schaut in diesem Werk auf seine eigene Genese zurück, sieht sich aber nicht als passives, kontingentes Produkt dieser Geschichte an. Die Vernunft schreibt ihre Geschichte von ihrem eigenen Standpunkt aus, sieht dabei aber, dass sie sich für weitere Lernprozesse offenhalten muss, wohl wissend, wie Habermas schreibt, dass die Vernunft, die an der Gegenwart klebte, „mit dem Verschwinden jeden Gedankens, der das in der Welt Seiende im Ganzen transzendiert, selber verkümmern“ würde.

Ein in diesem Jahr erschienener Band mit dem Titel Vernünftige Freiheit diskutiert diesen Ansatz und enthält eine beeindruckende, ausführliche Replik von Habermas auf eine große Zahl detaillierter Kritiken. Hier zeigt sich seine Philosophie einerseits, wie Hegel sagte, als ihre Zeit in Gedanken gefasst, weist zugleich aber weit zurück auf frühere Epochen der Philosophie und nach vorne, auf die Herausforderungen der Zukunft.

Ein weiteres jüngst erschienenes Buch von Habermas wirft eine nicht minder aktuelle Frage auf, diesmal stärker soziologisch informiert. Ihm zufolge muss der Begriff der kommunikativen Vernunft einerseits philosophisch entfaltet werden; andererseits aber ist die Realisierung dieser Form der Rationalität eine Frage, für die es der Sozial- und Rechtswissenschaften bedarf. So kehrt er in Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit sechzig Jahre nach dem Erscheinen seiner Habilitationsschrift über den Strukturwandel der Öffentlichkeit zu diesem Thema zurück. Das Buch, das jüngst der Gegenstand einer Tagung mit ihm gemeinsam war, zeigt die Möglichkeiten, aber besonders die Gefährdungen des öffentlichen Vernunftgebrauchs und einer informierten politischen Öffentlichkeit unter den neuen Medienbedingungen unserer Zeit auf; seine Sorge gilt insbesondere dem Einfluss der neuen sozialen Medien und ihrer Tendenz zur Fragmentierung der Öffentlichkeit und der Aufspaltung in „Halböffentlichkeiten“, die ihre eigenen Wahrheiten produzieren. Ob unter diesen Bedingungen an einem Ideal „deliberativer Demokratie“ festgehalten werden kann, ist eine Frage, die Habermas wie auch viele andere umtreibt. Denn demokratische Selbstregierung, politische Autonomie, setzt einen gemeinsam geteilten Raum politischer Rechtfertigung voraus, der stets neu erschaffen, aber auch dort, wo er besteht, erhalten werden muss.

Dieses Verständnis der Autonomie ist es denn auch, das Habermas in seinem großen Vortrag vor fünf Jahren eindrucksvoll in Erinnerung rief, indem er sagte: „Nur die Freiheit erfüllt den Begriff der Autonomie, von der wir wissen, dass niemand wirklich frei ist, bevor es nicht alle sind.“

Nicht nur Schüler wie der Autor dieser Zeilen schulden Jürgen Habermas Dank dafür, diesen Gedanken ins Zentrum seines philosophischen, aber auch seines gesellschaftstheoretischen Werks gerückt zu haben. Es ist in seiner Breite und Tiefe singulär in einer wissenschaftlichen Landschaft, die sich immer weiter spezialisiert und beschränkt.

Wir gratulieren noch einmal von Herzen und hoffen auf viele weitere Möglichkeiten zum gemeinsamen Denken.

Rainer Forst ist Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität und Direktor des Forschungszentrums Normative Ordnungen.

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