Begegnungen mit polizeilicher Gewalt

Im Forschungsprojekt KviAPol geht es um »Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamte und -beamtinnen«.

Polizei patrouilliert eine stark frequentierte Straße in Frankfurt am Main. Foto: Shutterstock/Pradeep Thomas Thundiyil

UniReport: Frau Abdul-Rahman, Herr Prof. Singelnstein, vor allem die Black-Lives-Matter-Bewegung in den USA dürfte weltweit Menschen bewegt und die Diskussion um polizeiliche Gewalt gerade gegen Minderheiten befeuert haben. Spielten solche Debatten auch eine Rolle beim Design Ihrer Untersuchung?

Laila Abdul-Rahman: Nicht unbedingt beim Design, aber die gesellschaftlichen Debatten und sich daraus ergebende Fragen beziehen wir natürlich in unsere Auswertungen ein. So haben wir uns dazu entschieden, in einem zweiten Zwischenbericht einen besonderen Blick auf Rassismus und Diskriminierungserfahrungen im Kontext von polizeilichen Gewaltanwendungen zu legen. Auch im Abschlussbericht bleibt das Thema relevant.

Gab es bei der Vorüberlegung zum Projekt auch die Frage, ob eine solche Untersuchung möglicherweise auch unzutreffende Vorwürfe gegenüber der Polizei und damit verbunden eine zunehmende Staatsferne mancher gesellschaftlichen Gruppen befeuern könnte

Tobias Singelnstein: Es geht bei dieser Untersuchung nicht darum, Vorwürfe zu machen, sondern Erkenntnisse über ein Phänomen zu erlangen, über das in Deutschland bisher fast keine empirischen Daten vorlagen. Ignorieren staatliche Institutionen solche Themen, obwohl sie für Betroffene und die Gesellschaft insgesamt von erheblicher Bedeutung sind, kann dies viel eher eine weitere Entfremdung vorantreiben. Unsere Aufgabe als Wissenschaftler*innen ist es, eine differenzierte Gesprächsgrundlage zu schaffen.

Vielleicht eine Frage zum Methodischen: Sie haben sich dafür entschieden, die Sicht der Betroffenen in den Fokus zu rücken. Wie sind Sie da vorgegangen?

Laila Abdul-Rahman: Wir haben eine Online-Befragung mit mehr als 3300 Personen durchgeführt, die wir zuvor über sogenannte Gatekeeper*innen, vor allem zivilgesellschaftliche Organisationen und Beratungsstellen, rekrutiert hatten. Außerdem haben wir mit einem öffentlichen Aufruf gearbeitet, uns entsprechende Vorfälle zu schildern. Zusätzlich haben wir 63 qualitative Interviews mit Personen aus Polizei, Justiz und Zivilgesellschaft geführt.

Bei den Formen der Begegnung mit polizeilicher Gewalt haben sich drei Gruppen ergeben: Demonstrationen/politische Aktionen, Fußball/andere Großveranstaltungen sowie Einsätze außerhalb von Großveranstaltungen. Was lässt sich vergleichend über diese sagen?

Laila Abdul-Rahman: Bei Großveranstaltungen wie Demonstrationen oder Fußballspielen sind grundsätzlich eine Vielzahl von Personen anwesend, der Kontakt zwischen Polizei und Betroffenen ist oftmals anonymer und es werden vor allem geschlossene Einheiten, wie die Bereitschaftspolizei, aber auch andere Einsatzmittel, wie etwa Wasserwerfer, eingesetzt. Daraus ergeben sich bestimmte Interaktionsdynamiken, etwa dass Situationen aus Sicht der Betroffenen schnell, zum Teil ohne Vorwarnung eskalieren. Viele Befragte fühlten sich etwa zu Unrecht von polizeilicher Gewalt betroffen, da sie selbst friedlich gewesen seien. Hier spielen Kommunikationsdefizite eine große Rolle. Aber auch bei Einsätzen außerhalb von Großveranstaltungen, wie Personen- oder Verkehrskontrollen, oder Situationen, in denen die Polizei wegen eines Konflikts oder einer Straftat gerufen wurde, ist Kommunikation von Bedeutung. Die Eskalationsverläufe dauerten hier länger, es gab mehr Raum etwa für Diskussionen durch Betroffene. Das Infragestellen der polizeilichen Deutungshoheit kann dabei zu Gewalt führen oder auch durch im Grundsatz nicht verbotene Handlungen wie das Filmen eines Einsatzes ausgelöst werden.

Welche Formen von Gewaltanwendungen lassen sich insgesamt unterscheiden? Wie oft kam es zu einem Strafverfahren?

Tobias Singelnstein: Wir sehen in unserem Material eine große Bandbreite verschiedener Vorfälle, etwa auch in den verschiedenen Formen der Gewalt: Sehr häufig wurden Stöße und Schläge genannt, häufig waren auch Tritte und Fesselungen beziehungsweise Fixierungen. 19 Prozent aller Befragten berichteten von schweren Verletzungen wie Knochenbrüche, Kopfverletzungen und innere Verletzungen. Ein Strafverfahren fand nach Kenntnis der Betroffenen nur in 13 Prozent der berichteten Fälle statt. Der überwiegende Teil dieser Fälle wurde durch die Staatsanwaltschaft eingestellt. Wie schon aus offiziellen Statistiken bekannt, ist die Anklagequote mit 2 Prozent äußerst gering. Hier zeigt sich ein Problem der rechtsstaatlichen Aufarbeitung.

Gibt es denn bereits auch Studien, die umgekehrt die Sicht der Polizist*innen beleuchten? Sind solche Studien unter Umständen problematisch, weil sich darin zu sehr die von Behörden gewünschte Sicht auf die Realität widerspiegelt?

Tobias Singelnstein: Es gibt eine Vielzahl an Studien, die etwa die Gewalt gegen Polizeibeamt*innen erforschen. Daneben existieren einige ethnographische Studien, die den Polizeialltag beleuchten. Solche Studien sind wichtig, unterliegen aber ebenfalls, wie jede wissenschaftliche Untersuchung, bestimmten Einschränkungen. Insofern ist es wichtig, auch die Betroffenenperspektive in den Blick zu nehmen, wie wir es getan haben.

Befragt wurden von Ihnen Betroffene, die ihre subjektive Sicht der Dinge wiedergegeben haben. Sie schreiben in dem Zwischenbericht u. a., dass die »Abgrenzung zwischen der rechtmäßigen Ausübung unmittelbaren Zwangs durch die Polizei einerseits und rechtswidriger polizeilicher Gewaltausübung andererseits für juristische Lai*innen mitunter nicht einfach vorzunehmen ist«. Das heißt, dass die als unrechtmäßig empfundene Gewalt von Polizist*innen mitunter auch rechtmäßig gewesen sein kann?

Tobias Singelnstein: Als sozialwissenschaftlich angelegte Studie können wir keine juristische Prüfung der uns geschilderten Fälle vornehmen. Wir können allerdings erforschen, aus welchen Gründen polizeiliche Gewalt von Betroffenen als rechtswidrig wahrgenommen wird. In Zusammenschau mit den Interviews, auch mit Polizeibeamt*innen, können wir so herausfinden, warum Situationen eskalieren und welche institutionellen Probleme sich zeigen. Dies war unser Fokus. Eine abschließend rechtliche Prüfung kann durch eine Viktimisierungsbefragung nicht geleistet werden.

In einer Zusatzauswertung wurden die Daten des Projekts KviAPol qualitativ und quantitativ analysiert hinsichtlich der Erfahrungen von Personen mit Migrationshintergrund und People of Color (PoC) im Kontext polizeilicher Gewaltausübung. Wie würden Sie da die Ergebnisse zusammenfassen?

Laila Abdul-Rahman: PoC berichteten deutlich häufiger von Diskriminierungserfahrungen als weiße Personen. Sie zeigten sich psychisch auch stärker belastet. Außerdem wurde ihnen häufiger davon abgeraten, eine Anzeige gegen die Polizeibeamt* innen zu erstatten. In den Interviews mit Polizeibeamt* innen wurde zum Teil ein problematisches Erfahrungswissen sichtbar, welches kulturalisierende Stereotype und andere rassistische Vorurteile spiegelte. Nicht immer war diese Problematik den Beamt*innen bewusst. Daran zeigt sich, dass Rassismus in der Polizei nicht bloß ein individuelles, sondern mindestens ebenso ein strukturelles Problem ist.

Wie unterscheiden sich in diesem Kontext Erfahrungen von Personen mit Migrationshintergrund und PoC von Personen ohne Migrationshintergrund beziehungsweise weißen Personen? Bestätigt sich der allgemein bekannte Vorwurf, dass Personen aufgrund Ihrer Hautfarbe verdachtsunabhängig häufiger in Kontrollen geraten?

Tobias Singelnstein: Vor allem PoC waren anteilig betrachtet häufiger aufgrund von Personenkontrollen mit der Polizei in Kontakt als weiße Personen. Mangels bevölkerungsrepräsentativer Stichprobe kann dieses Ergebnis jedoch nicht für Deutschland generalisiert werden. Es fehlt hier immer noch an geeigneten statistischen Erfassungen und Forschung.

Fragen: Dirk Frank

Das Forschungsprojekt KviAPol (Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamte und -beamtinnen) untersucht polizeiliche Gewaltanwendungen, die aus Sicht der Betroffenen rechtswidrig waren, mittels quantitativer Online-Befragung sowie die polizeiliche, justizielle und zivilgesellschaftliche Perspektive auf rechtswidrige Polizeigewalt und deren Aufarbeitung in Deutschland mittels qualitativer Interviews. Zum Team gehören die Wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Laila Abdul-Rahman, Hannah Espín Grau und Luise Klaus sowie Prof. Dr. Tobias Singelnstein, der die Projektleitung innehat.

Weitere Informationen zum Forschungsprojekt unter www.jura.uni-frankfurt.de

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