Faszien: Aschenputtel der Anatomie

Dr. Jan Wilke gelang zusammen mit Prof. Winfried Banzer eine Veröffentlichung im Lehrbuch »Gray’s Anatomy«; Foto: Gärtner

Dr. Jan Wilke forscht am Institut für Sportwissenschaften zum Thema Faszien. Dass dieses Gewebe trainiert werden soll, ist derzeit immer wieder zu lesen. Wilke erklärt, was am Trend dran ist.

Nachgefragt bei Dr. Jan Wilke, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sportwissenschaften. Ihm gelang in Zusammenarbeit mit Prof. Winfried Banzer eine Veröffentlichung über die Bedeutung der Faszien in einem der weltweit renommiertesten Lehrbücher, »Gray’s Anatomy«. Das Faszientraining ist zurzeit in aller Munde – Wilke erklärt, was dran ist am Trend.

GoetheSpektrum: Herr Wilke, die Bedeutung der Faszien wurden lange Zeit unterschätzt. Warum sind sie so wichtig?

Dr. Jan Wilke: Die Faszien sind das Aschenputtel der Anatomie. Das Gewebe wurde lange missachtet, in Anatomiesälen weggeschnitten und in den Papierkorb geworfen, und in Lehrbüchern war es nur wenig prominent vertreten. Heute wissen wir, dass die Faszien eine wichtigere Funktion für das Bewegungssystem haben als zunächst angenommen: sowohl im Bereich der Sensorik, da in dem Gewebe zahlreiche Rezeptoren sind, die Schmerzen erzeugen können, als auch im Bereich der Mechanik. Faszien können ihre Spannung modifizieren, das heißt, sie können fester werden. Man kann sich die Faszien vorstellen wie einen weißen dünnen Strumpf um den Muskel herum. Wenn dieser fester und enger wird, dann ist die Beweglichkeit eingeschränkt. Früher dachte man zudem, dass Faszien die Muskeln voneinander trennen. Doch das Gegenteil ist der Fall: die Muskeln werden über die Faszien verknüpft. So haben wir herausgefunden, dass beim Dehnen der Beine auch die Halswirbelsäule beweglicher wird. Training und Sporttherapie wirken also nicht nur so lokal, wie man lange Zeit dachte.

Was bedeutet die Platzierung eines Artikels in einem so bekannten Lehrbuch für Ihre Arbeit?

Gray’s Anatomy ist eines der bedeutendsten Lehrbücher im angloamerikanischen Raum, die Aufnahme eines Artikels erhebt die Funktionszuschreibung der Faszie damit in den Stand des etablierten Wissens. Für unseren Arbeitsbereich und für meine Arbeit ist es eine großartige Anerkennung. Nun muss das Wissen nur noch in der Lehre an den Universitäten Einzug halten. In der Goethe-Universität gehört es zwar dazu, dass sich die Sportstudierenden im Bereich Anatomie und Physiologie vertieft mit Faszien beschäftigen – aber da ist unsere Universität eine der wenigen Ausnahmen.

Faszientraining ist in den letzten Jahren regelrecht zu einer Modeerscheinung geworden. Gibt es Nachteile dieses Hypes?

Einerseits freue ich mich, dass das Thema in der Praxis so gut ankommt. Andererseits hat der Hype auch Fallstricke. Es gibt viele Hersteller, die speziell auf Faszien ausgerichtete Sportgeräte entwickeln. Dabei ist es nicht möglich, Faszien isoliert zu trainieren. Wann immer ich mich bewege, trainiere ich Muskel und Faszien zusammen. Momentan gibt es allerdings noch zu wenige gesicherte Studien darüber, wie sich Training tatsächlich auf Faszien auswirkt.

Der Fachbereich Sportwissenschaften forscht unter anderem auch zum Thema Gesundheit am Arbeitsplatz. Was können die Mitarbeiter der Goethe-Universität tun, um ihre zumindest indirekt Faszien zu trainieren?

Wenn man etwas für die allgemeine körperliche Gesundheit tut, ist das auch für die Faszien gut. Wenig Bewegung ist ein großer Risikofaktor für viele Spätfolgeerkrankungen. Man sollte so oft wie möglich vom Schreibtisch aufstehen und versuchen, sich zwischendurch elastisch federnd zu bewegen, etwa beim Treppensteigen. Explosiv dynamische Bewegungen wie hüpfen, springen, schwingen sind Reize, die die Faszien stimulieren. Auch das Rollen mit Hartschaumrollen ist eine gute Sache.

Interview: Melanie Gärtner

Dieser Artikel ist in der Ausgabe 1.18 der Mitarbeiterzeitung GoetheSpektrum erschienen.

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