Jugend und Corona: Erziehungswissenschaftlerin Johanna Wilmes im Interview

Keine offenen Räume, kein Mitspracherecht: Die Erziehungswissenschaftlerin Johanna Wilmes hat untersucht, wie junge Menschen die Corona-Pandemie erleben. Ein wichtiges Ergebnis der Online-Befragung: Es wird mehr Verständnis für die Situation von Jugendlichen in der Pandemie gefordert.

UniReport: Der Frankfurter Philosoph Marcus Willaschek hat in einem FAZ-Beitrag die (zugespitzte) Frage gestellt, warum die Gesellschaft nicht auch der jungen Generation applaudiert, die am wenigsten vom Lockdown profitiert, aber am meisten darunter gelitten habe. Würden Sie ihm zustimmen?

Johanna Wilmes: Junge Menschen fühlen sich nicht gesehen, ihre Leistungen zur Bewältigung werden nicht anerkannt. Eine ähnliche Frage wie Herr Willaschek stellte auch die Journalistin Anna Mayr in der ZEIT. Dass die junge Generation unter dem Lockdown, den Kontaktbeschränkungen, dem vielfachen Wegfall von organisierten Freizeitaktivitäten und den immer wieder getroffenen Veränderungen im Bildungssystem gelitten hat, zeigen unsere Daten. Genauso wie ältere haben auch viele junge Menschen ihre Einnahmequellen in der Gastronomie, Kulturbranche oder im Einzelhandel verloren. Es sollte nicht um einen Wettbewerb gehen, welche Generation nun am meisten gelitten hat. Gleichwohl zeigt sich deutlich: Junge Menschen sind durch die derzeitigen Machtstrukturen darauf angewiesen, dass Erwachsene sich für sie einsetzen, ihnen Gehör und Möglichkeiten zur Beteiligung verschaffen. Dafür ist ein anerkennender Dialog zwischen den Generationen unerlässlich, nach dem natürlich auch applaudiert werden darf.

Man könnte ja vermuten, dass die Klagen junger Menschen, nicht gehört zu werden, auch mit einem klassischen Generationskonflikt zu tun haben. Die einen sind alt (älter) und haben Angst vor Corona (und wollen sich und andere schützen), die anderen sind jung und sorglos und fordern wieder mehr Freiheiten. Diese Gegenüberstellung greift sicherlich zu kurz?

Junge Menschen sind keineswegs sorglos, das zeigt unsere Studie. Sie machen sich vielfach Sorgen, ihre älteren Angehörigen anzustecken. Das Gefühl nicht gehört zu werden, geht eher damit einher, nicht ernst genommen zu werden und das oftmals allein wegen des Alters. Dabei haben wir in unseren Arbeiten bereits oft von jungen Menschen lernen können, sie eröffnen uns einen ganz anderen Blick auf Jugend und Kindheit. Denn was genau diese Lebensalter ausmacht, welche Themen aktuell sind, was es für ein „gutes“ Aufwachsen braucht, verändert sich über die Zeit. Auch angesichts dessen ist es nötig, jungen Menschen zuzuhören und ihre Überlegungen und Wünsche in Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Sie haben viele gute und realistische Ideen, wie jugendpolitische Themen angegangen werden können oder wie Schule und Universität gestaltet werden kann.

Die Pandemie hat sich wohl grundlegend in das Alltagsleben der jungen Menschen eingeschrieben. Besonders belastend ist dabei, dass die »offenen Räume« fehlen, mehr noch als die Hobbys, so lautet ein Ergebnis. Fehlt dieser Aspekt bei der Stadtplanung? Könnte der (notwendige) Digitalisierungsschub dafür sorgen, dass man das Fehlen »realer« Räume übersieht? Sind davon besonders auch jene Jugendlichen betroffen, die zu Hause in räumlich und sozial beengten Verhältnisse leben?

Da schließt sich die Frage an „Wem gehört die Stadt?“ und das ist vor allem eine Frage von Macht und Raumaneignung. Welche Möglichkeiten werden jungen Menschen gewährt, sich draußen an öffentlichen Orten aufzuhalten und für sich zu nutzen? Oftmals gehen hier die Vorstellungen von Erwachsenen und jungen Menschen auseinander. Ein gutes Beispiel dafür bieten oftmals Parkbänke als einladende Orte für junge Menschen, dort zu „chillen“, die in der Stadtplanung dafür jedoch nicht gedacht sind. Das kann zu Konflikten führen. In Frankfurt gab es immer wiederkehrende Diskussionen um z. B. den Friedberger Platz, den Opernplatz oder zuletzt den Hafenpark. Doch offene Räume sind für junge Menschen enorm wichtig. Das „Chillen“ dient dem Entfliehen aus dem Alltag, dem Stressabbau und dem Erfahrungsaustausch mit Gleichaltrigen. Grundsätzlich gilt dies erst einmal für die meisten jungen Menschen gleichermaßen. In der Zeit des Lockdowns wurde es für diejenigen in beengten Wohnverhältnissen jedoch zu einem besonderen Thema. Denn es ist schwer, sich unentwegt in einer engen Wohnung zusammen mit der Familie aufzuhalten. Eine Kollegin des Fachbereichs, Yagmur Mengilli, beschäftigt sich intensiv mit dem Thema und stellt heraus, dass das „Chillen“ zudem ein wichtiger Teil der Jugendkultur ist.

Jugendliche haben keinen Raum zur Mitgestaltung des Krisenmanagements, so ein Befund der Studie. Wie könnte man ihnen den geben, bietet unsere Demokratie dafür überhaupt Möglichkeiten, gibt es Ideen dafür?

In einer früheren Befragung, Children’s Worlds+, haben uns Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene darauf aufmerksam gemacht, wie wenig Achtung und Respekt ihnen in Aushandlungsprozessen von Erwachsenen entgegengebracht wird. Ein unsere Forschung begleitendes Jugendexpert*innenteam forderte deshalb eine Haltungsänderung. Zudem wird in mehreren Studien deutlich, dass es keine gut etablierten Strukturen und Beteiligungsverfahren gibt. Hier könnte folglich angesetzt und gemeinsam mit jungen Menschen könnten Beteiligungsformen entwickelt und Verfahren erprobt und etabliert werden.

Da auch der Vorwurf formuliert wird, dass auch Befragungen mitunter nicht die wirklichen Bedürfnisse junger Menschen abbilden, wurden im Rahmen von Juco Wege gesucht, sie partizipativ in den Forschungsprozess einzubinden. Wie hat man sich das vorzustellen?

Der Fragebogen der ersten JuCo-Studie orientiert sich an Fragen, die wir in einem anderen Forschungsprojekt genutzt haben. Bereits damals haben wir mit jungen Menschen zusammengearbeitet, unseren Fragebogen sowie die Erkenntnisse und deren Interpretation gemeinsam diskutiert. Nachdem wir eine erste Version eines Fragebogens für die JuCo-Studie erstellt hatten, baten wir junge Menschen um Rückmeldungen: Passt das Wording? Haben wir Wichtiges vergessen? Sind unsere Fragen verständlich? Und so weiter. Auch die Ergebnisse von JuCo I haben wir wieder in verschiedenen Workshops mit jungen Menschen besprochen. Die Diskussionen gingen oft weit über den Fragebogen hinaus. Die Themen, die zum gemeinsamen Erfahrungsschatz der Workshop-Teilnehmenden gehörten, haben wir im zweiten Fragebogen aufgegriffen. Der Fragebogen zu JuCo II legt zum Beispiel einen Fokus auf die Sorgen und das psychosoziale Empfinden sowie auf das Thema der Freizeitgestaltung – das sind Themen, die von jungen Menschen selbst kommen.

Sie haben die Online-Befragungen im April und November 2020 durchgeführt. Im vergangenen Herbst bestand ja bei vielen noch die Hoffnung, dass uns ein längerer Lockdown erspart bleiben könnte. Das hat sich leider nicht erfüllt; denken Sie, dass die Aussagen vor dem Hintergrund der vergangenen Monate anders bzw. noch negativer ausgefallen wären (und sich damit die Entwicklung von Juco I zu Juco II fortgesetzt hätte)?

Für eine aufmerksame Beobachterin der Gegenwart stellt sich der Eindruck ein, die meisten Menschen sind müde, verunsichert und ringen darum, zuversichtlich zu bleiben. Das trifft vermutlich auch auf viele Jugendliche und junge Erwachsene zu. In unserer Studie haben wir mehrfach den Kommentar gelesen, dass die Monate der Pandemie durch ein unproduktives Gefühl des Wartens bzw. des Verharrens auf einem Abstellgleis geprägt seien. Solche Einschätzungen würden wir heute vermutlich auch lesen.

Es gibt aber auch »positive« Aspekte der Pandemie aus Sicht der Jugendlichen, z. B. mehr freie Zeiteinteilung und Selbstorganisation. Wie könnte und sollte die Gesellschaft diese Aspekte aufgreifen?

Ja, es werden positive Aspekte benannt und die haben mit neu erlebten Freiheiten zu tun, etwa den Tag selbstbestimmter beginnen zu können. Auch lehnen nicht alle Jugendlichen Wechselunterricht ab und können den Formaten – wenn sie gut funktionieren – viel abgewinnen. Insofern wäre auch hier aus Sicht der Befragten zu prüfen, wie ihre Erfahrungen und Einschätzungen bei der Gestaltung von Schule, Universität, Ausbildung künftig einbezogen werden können.

Ihre Studie hat ein großes mediales Echo erzielt. Sehen Sie denn, dass die Politik, die im Augenblick ohnehin für ihr Krisenmanagement viel Kritik einfährt, angesichts dieser Problemlage die Bedarfe junger Leute überhaupt stärker in Betracht ziehen kann, zumindest mittelfristig?

Dies ist eine Frage nach dem halb vollen oder halb leeren Glas. In den ersten Monaten waren Jugendliche und junge Erwachsene und die Konsequenzen der Infektionsschutzmaßnahmen auf deren Alltag wenig im Blick. Das hat sich zwar etwas geändert – so gab es beispielsweise im März ein Jugend-Hearing mit der Bundesjugendministerin. Die Frage ist nur, welche Aspekte des Jugendlebens im Bewusstsein politisch verantwortlicher sind. Derzeit hat man den Eindruck, es geht ausschließlich um das Nachholen von Lernstoff. Damit lassen sich aber sicherlich viele angestaute Probleme junger Menschen allein nicht bewältigen.

Fragen: Dirk Frank

Forschungsverbund »Kindheit – Jugend – Familie in der Corona-Zeit«

Die beiden Jugendbefragungen »Jugend und Corona« (JuCo I und II) wurden von einem Forschungsverbund der Goethe-Universität Frankfurt und der Universität Hildesheim durchgeführt. An JuCo I (15. April bis 3. Mai 2020) nahmen 5520 Jugendliche teil, an JuCo II (9. bis 22. November 2020) beteiligten sich mehr als 7000 junge Menschen. Die für die JuCo-Studien zusammengetragenen Erkenntnisse basieren auf jahrelanger wissenschaftlicher Arbeit der Kindheits- und Jugendforscher*innen zur Lebenswirklichkeit junger Menschen in Deutschland.
Die Ergebnisse der Studien wurden mit Jugendlichen in mehreren Online-Workshops von September 2020 bis Januar 2021 diskutiert und reflektiert. Die Jugendlichen haben ihre Erfahrungen und Forderungen in der Broschüre »Fragt uns 2.0 – Corona Edition« festgehalten.
Dem Team des Forschungsverbunds »Kindheit – Jugend – Familie in der Corona-Zeit« gehören Prof. Dr. Sabine Andresen und Johanna Wilmes vom Institut für Sozialpädagogik und Familienforschung an der Goethe-Universität an sowie Prof. Dr. Wolfgang Schröer, Dr. Tanja Rusack, Dr. Severine Thomas, Anna Lips und Lea Heyer vom Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim.

Zu den Publikationen
www.bertelsmann-stiftung.de/junge-menschen-corona
www.bertelsmann-stiftung.de/fragt-uns

Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 2/2021 (PDF) des UniReport erschienen.

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