Krank und trotzdem (etwas) arbeiten gehen?

Prof. Ferdinand Gerlach, Vorsitzender des Sachverständigenrats Gesundheit, spricht im Interview mit dem UniReport über den Vorschlag einer »Teil-Krankschreibung«

Herr Professor Gerlach, in dem Sondergutachten 2015 formuliert der Sachverständigenrat Gesundheit die Idee einer „teilweisen Krankschreibung“. Wie hat man sich das vorzustellen – jemand beispielsweise mit einer starken Erkältung kann doch nicht wirklich seinem Beruf nachgehen?

Für akute Infekte ist das Modell nicht gedacht. Wenn jemand zum Beispiel Fieber hat, gehört er ins Bett und kann nicht arbeiten. Uns geht es eher um langwierige Erkrankungen und da wollen wir ein zusätzliches, flexibel nutzbares Angebot ermöglichen. Denken wir mal an eine schwangere Verkäuferin, die acht Stunden am Tag stehen muss. Acht Stunden werden ihr möglicherweise langsam zu viel, aber vier Stunden könnte und würde sie vielleicht gerne arbeiten, auch weil ihr zu Hause ansonsten die Decke auf den Kopf fällt. Ähnlich ist es auch bei psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder etwa bei Rückenleiden. Bei beiden Erkrankungen gibt es Fälle, in denen es aus medizinischer Sicht nicht sinnvoll ist, sechs Wochen lang zu Hause zu bleiben. Bei Depressionen etwa ist es wichtig, dass Betroffene sich nicht sozial isolieren und die Rückkehr in den Alltag schaffen. Dabei kann der gewohnte Tagesablauf ebenso helfen wie der Kontakt zu den Kollegen. Und bei Rückenschmerzen ist es in der Regel auch besser, sich zu bewegen und zu laufen, als sich allzu sehr zu schonen und ins Bett zu legen. Für solche Fälle ist die Regelung gedacht.

Es gibt Branchen, wo eine „halbe“ Arbeitskraft möglicherweise nichts bringt, z. B. in Berufen mit starker körperlicher Beanspruchung.

Der Vorschlag ist als zusätzliche, freiwillig nutzbare Möglichkeit gedacht. Eine Teilarbeitsunfähigkeit erfordert damit zum einen immer die Zustimmung des Patienten und muss zum anderen selbstverständlich die konkrete Situation am Arbeitsplatz berücksichtigen. Bei einem Fernfahrer, der lange unterwegs ist oder einem Dachdecker, der nur völlig fit aufs Dach darf, geht das in der Regel nicht. Bei einem Büroangestellten, der mit einem verstauchten Knöchel aus dem Skiurlaub zurückkommt, könnte die Arbeit am Schreibtisch aber durchaus in Frage kommen.

Könnte ein solches Modell nicht dazu führen, dass die Grenzen zwischen arbeitsfähig und arbeitsunfähig aufgeweicht werden, gerade in Zeiten, in denen Beschäftigte um ihren Arbeitsplatz fürchten müssen?

Aktuell haben wir in Deutschland ja eine Alles-oder-Nichts-Regelung: Entweder ich bin 100 Prozent krank oder ich bin 100 Prozent gesund. Das reale Leben sieht anders aus. Da gibt es auch etwas dazwischen. Wir haben derzeit eine zu starre und nur an den Defiziten orientierte Sichtweise und berücksichtigen viel zu wenig die vorhandenen gesundheitsförderlichen Ressourcen zur Genesung. Gerade in einer Arbeitswelt mit zunehmender Arbeitsverdichtung und zum Teil hohem Leistungsdruck benötigen wir flexiblere Möglichkeiten. Ich weiß aus meiner eigenen zwanzigjährigen Praxiserfahrung, dass es auch viele Patienten gibt, die von sich aus sagen, sie würden gerne wieder arbeiten gehen. Sie wissen, dass ihre Kollegen für sie mitarbeiten müssen, aber sie selbst halten noch nicht wieder den vollen Stress aus. Für diese speziellen Fälle, von denen es aber gar nicht so wenige gibt, soll es eine zusätzliche Option geben, also ein Angebot, das alltagspraktisch näher an der Realität ist, das man freiwillig immer dann nutzen kann wenn es aus medizinischer Sicht sinnvoll und am konkreten Arbeitsplatz umsetzbar ist.

Wird Ärzten damit nicht eine weitere Aufgabe aufgebürdet, nämlich einzuschätzen, welche Arbeit ein „teilweise Kranker“ noch leisten kann? Verliert man sich dabei unter Umständen nicht in Details, ist das nicht auch für den Arbeitgeber ein zusätzlicher bürokratischer Aufwand?

Dass dies sehr gut funktioniert, beweist das sog. „Hamburger Modell“ zur schrittweisen Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess. Das Modell wird in Deutschland seit langem bundesweit genutzt, bisher allerdings erst ab der siebten Woche, wenn die Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber endet und die Betroffenen Krankengeld von der Krankenkasse erhalten. Wir haben lediglich vorgeschlagen, dass die Anwendung dieses bewährten Prinzips zukünftig auch schon in den ersten sechs Wochen möglich sein sollte. Unbürokratisch umsetzen ließe sich die Teilkrankschreibung zum Beispiel mit einem zusätzlichen Auswahlfeld auf dem gelben Zettel, wo der Arzt neben dem Regelfall alternativ auch 25, 50 oder 75 Prozent Krankschreibung ankreuzen kann. Es geht konkret darum, in wenigen Einzelfällen ein Häkchen zu setzen. Das ist kein unüberwindbarer bürokratischer Aufwand. Eine bürokratiearme Umsetzung sollte auch in den ersten sechs Wochen und auch gegenüber den Arbeitgebern umsetzbar sein.

Sehen Sie in einem solchen neuen Modell Einsparpotenziale für das Gesundheitssystem?

Unsere Empfehlungen zielen explizit nicht darauf, die Krankengeldausgaben „um jeden Preis“ zu senken. Das Krankengeld ist ja keine „Wohltat“, sondern zum einen eine gesamtgesellschaftlich sehr sinnvolle Leistung und zum anderen ein sozialrechtlicher Anspruch, der von den Versicherten zuvor durch Zahlung von Beiträgen erworben wurde. Da wir uns nicht als Sparkommissare sehen, haben wir auch keine Einsparpotenziale berechnet. Es geht uns bei diesem Vorschlag in erster Linie um eine Verbesserung der Autonomie und Lebensqualität der Betroffenen. Der jetzt intensiv diskutierte Vorschlag ist im Übrigen nur eine von insgesamt dreizehn Empfehlungen, die wir auf der Basis umfangreicher Analysen gemacht haben. Probleme und vermeidbare Ausgaben sehen wir vor allem an der Schnittstelle zum Arbeitslosengeld und zur Rente. So kann es unter Umständen attraktiver sein, eineinhalb Jahre lang Krankengeld zu beziehen als in Rente zu gehen. Gleiches gilt für den Bezug von Krankengeld bei Arbeitslosigkeit. Angesichts von bestehenden Fehlanreizen und auch Hinweisen auf Missbrauch zielen andere Vorschläge darauf ab, hier mehr Fairness zu erreichen.

Wie sind die Erfahrungen, die man in Skandinavien damit gemacht hat?

In Schweden gibt es die Möglichkeit einer 50%igen Teilarbeitsunfähigkeit bereits seit 1962. Seit 1990, also schon seit 25 Jahren, wird dort exakt die von uns jetzt vorgeschlagene flexible Staffelung (25, 50, 75 oder 100 %) praktiziert. Das Modell ist dort ausführlich erforscht und evaluiert worden. Aufgrund der insgesamt positiven Erfahrungen haben inzwischen auch Dänemark, Norwegen und Finnland das Prinzip übernommen. In Österreich wird aktuell darüber diskutiert, es ebenfalls einzuführen. Auch wenn es in skandinavischen Ländern zum Teil andere Rahmenbedingungen gibt, lohnt hier nach unserer Auffassung ein Blick über den deutschen Tellerrand.

Wenn jemand halb krankgeschrieben ist und halb arbeitet, wie sieht es denn dann mit dem Krankengeld aus? Hat er dann unter dem Strich mehr als bei einer „ganzen“ Krankschreibung (oder genauso viel), wie sieht es für den Arbeitgeber aus?

In den ersten sechs Wochen würde sich nichts ändern: jeder Versicherte bekommt selbstverständlich eine vollständige Lohnfortzahlung. Die Umsetzung unserer Empfehlung würde für die Versicherten jedoch ab der siebten Woche einen finanziellen Vorteil bedeuten. Ab der siebten Woche bekommt man ja jetzt das Krankengeld, das 70 Prozent des Bruttolohns ausmacht, maximal 90 Prozent vom Netto. Wenn Sie jetzt das Hamburger Modell anwenden, so wie es heute ist, und Sie gehen halbtags wieder arbeiten, dann bekommen Sie trotzdem nur das Krankengeld. Sie bekommen auch dann nicht mehr, wenn Sie 75 Prozent arbeiten gehen. Der Arbeitgeber muss erst dann wieder einen Cent zahlen, wenn Sie 100 Prozent gesund sind. Das ist jetzt ein ordnungspolitisches Problem, denn die Beitragszahler zahlen im Hamburger Modell auch für einen Versicherten, obwohl der seinen Job schon wieder zu drei Vierteln ausfüllt. Das ist nicht einzusehen. Wenn unser Vorschlag umgesetzt würde, dann hätten die Betroffenen mehr Geld im Portemonnaie. Würde jemand halbtags arbeiten, hätte er nach unserem Modell für diesen halben Tag den vollen Lohn und für die andere Tageshälfte dann die 70 Prozent Krankengeld. Das wäre fairer und könnte für Versicherte sogar ein Anreiz sein, von der Wiedereinstiegsmöglichkeit Gebrauch zu machen. Während der ersten sechs Wochen hätte der Arbeitgeber einen Vorteil, weil er im Gegensatz zu heute einen Teil der Arbeitskraft als Gegenleistung für die Lohnfortzahlung bekäme.

Des Weiteren schlagen Sie vor, dass bei einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nur noch eine einzige Hauptdiagnose möglich sein soll – was versprechen Sie sich davon?

Dieser Vorschlag soll mehr Klarheit schaffen und zur Entbürokratisierung beitragen. Unsere Analysen der jetzigen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zeigen, dass hier teilweise schon von der Praxis-EDV alles an Dauerdiagnosen reingedruckt wird, was der Computer hergibt. 15 oder 20 Diagnosen auf einem Schein sind keine Seltenheit. Ohne Priorisierung von Haupt- und Nebendiagnosen entsteht damit ein Wirrwarr. Dann steht da auch bei länger andauernder Arbeitsunfähigkeit als Begründung eine Mandelentzündung oder Fußpilz. Es gibt auch noch ein tiefer liegendes Problem. Mehrfachbegründungen bei der Krankschreibung führen bei der Berechnung der sogenannten Blockfristen zu erheblichen Problemen. Arbeitsunfähigkeit hat Spielregeln. Ab der siebten Woche gibt es Krankengeld. Das wird bis zu 78 Wochen bezahlt – innerhalb einer dreijährigen Blockfrist. Erst wenn die Blockfrist abgelaufen ist, können Sie mit der gleichen Erkrankung wieder Krankengeld beziehen. Sie können aber auch sofort wieder Ansprüche geltend machen, wenn es sich um eine andere Erkrankung handelt. Um das zu unterscheiden, benötigt man eine die Arbeitsunfähigkeit begründende Hauptdiagnose.

In der Diskussion um Krankschreibung wird immer wieder auch darauf hingewiesen, dass in Zeiten wirtschaftlicher Krisen und Unsicherheit der Krankenstand niedriger ist, umgekehrt in Zeiten des Wachstums und sinkender Arbeitslosigkeit sich mehr Menschen krankschreiben lassen – kann man daraus ableiten, dass es keinen „objektiven“ Krankenstand gibt?

Es gibt definitiv keinen „objektiven“ Krankenstand. Dafür sind die Einflussfaktoren viel zu komplex. So gibt es auch während bestimmter Konjunkturzyklen zwischen Branchen und innerhalb der gleichen Branche zwischen einzelnen Betrieben zum Teil erhebliche Unterschiede. Es ist naheliegend, dass hier Faktoren wie Arbeitsbedingungen, Betriebsklima und Führungsverhalten eine wichtige Rolle spielen. Die unterschiedlich ausgeprägte Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes kommt dann ggf. hinzu. Wir haben uns im aktuellen Gutachten daher unter anderem auch mit Ansätzen zur betrieblichen Gesundheitsförderung bzw. zum betrieblichen Gesundheitsmanagement auseinandergesetzt. Eine sehr gute Nachricht unseres Gutachtens ist, dass sich die seit 2006 zu beobachtende starke Steigerung der Krankengeldausgaben von 8,1 % pro Jahr zu rund der Hälfte mit drei sehr erfreulichen Gründen erklären lässt: Erstens ist die Zahl der Beschäftigten gestiegen. Das bedeutet automatisch auch, dass es mehr Krankengeldberechtigte gibt. Zweitens arbeiten die Menschen heute in der Regel länger und gehen nicht mehr so früh in den Ruhestand. Ältere Arbeitnehmer sind in der Regel jedoch auch häufiger krank. Gleichzeitig verdienen sie relativ gesehen mehr als jüngere. Beides führt ebenfalls zu einem Anstieg der Krankengeldkosten. Und drittens ist auf Grund höherer Löhne die Grundlohnsumme insgesamt gestiegen – und damit das Krankengeld. Diese drei sozialpolitisch erwünschten Faktoren zusammen erklären etwa 50 Prozent des Anstiegs. Insofern haben wir – anders als zunächst vielleicht vermutet und trotz durchaus vermeidbarer Ausgaben – hier gar keine dramatische Entwicklung.

Wann wird die Politik über Ihre Vorschläge entscheiden, womit rechnen Sie?

Die Diskussion darüber hat bereits begonnen und wird sicher weitergeführt. Mit einer gesetzgeberischen Initiative ist aber nicht vor der nächsten Bundestagswahl zu rechnen. Danach könnte ich mir eine Umsetzung der Empfehlung durchaus vorstellen, schlicht weil es sinnvoll ist.

[dt_call_to_action content_size=“small“ background=“fancy“ line=“true“ style=“1″ animation=“fadeIn“]

Mehr zum Sondergutachten 2015 des Sachverständigenrates Gesundheit:
www.svr-gesundheit.de/index.php?id=567″

[/dt_call_to_action]

Relevante Artikel

Öffentliche Veranstaltungen
Christ Englert steht auf einem Basketballplatz

Chris Englert, Sportpsychologe

Sein Betätigungs- und Forschungsfeld wird oft falsch eingeschätzt: „Die Sportpsychologie befindet sich genau auf der Schnittstelle zwischen der Grundlagenwissenschaft Psychologie

You cannot copy content of this page