Eine Reihe seltener Erbkrankheiten, die motorische, sensorische und neurologische Störungen hervorrufen, wird durch Fehlfunktionen zweier Proteine namens FLCVR1 und FLCVR2 ausgelöst. Welche biochemischen Mechanismen dahinterstecken und welche physiologischen Funktionen die beiden FLCVR-Proteine übernehmen, war aber bisher unklar. Ein interdisziplinäres Forschungsteam aus Frankfurt am Main, Singapur und den USA hat nun die 3D-Struktur und zelluläre Funktion der Proteine entschlüsselt. Die Forschenden konnten zeigen, dass die FLCVR-Proteine die Zellbausteine Cholin und Ethanolamin transportieren. Ihre Erkenntnisse tragen maßgeblich dazu bei, die Entstehung seltener Krankheiten zu verstehen und neue Therapien zu entwickeln.
In Krankenhausserien wie Scrubs oder Dr. House fiebern Zuschauende mit, wenn Ärztinnen und Ärzte bei Erkrankten mit teils rätselhaften oder kuriosen Symptomen nach korrekter Diagnose und möglichen Therapien suchen. In der Realität dauert dieser Prozess für Betroffene seltener Erkrankungen oft Jahre. Wirksame Medikamente gibt es häufig keine und die Behandlungsoptionen sind begrenzt.
Weltweit leiden schätzungsweise 6 bis 8 Prozent der Bevölkerung an einer seltenen Erkrankung. Das sind rund 500 Millionen Menschen, auch wenn jede einzelne der über 7000 verschiedenen Krankheiten nur jeweils etwa einen von 2000 Menschen betrifft. Weil diese Erkrankungen so selten auftreten, ist das medizinische und wissenschaftliche Wissen über sie begrenzt. Expertinnen und Experten gibt es nur wenige und das gesellschaftliche Bewusstsein fehlt in vielen Fällen.
Struktur und Funktion von Proteinen aufklären, um Krankheiten und Therapien zu erforschen
Ein internationales Team von Forschenden um Schara Safarian, Projektgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Biophysik sowie unabhängiger Gruppenleiter am Fraunhofer-Institut für Translationale Medizin und Pharmakologie ITMP und dem Institut für Klinische Pharmakologie der Goethe-Universität Frankfurt, hat nun die Struktur und zelluläre Funktion zweier Proteine, FLCVR1 und FLCVR2, erforscht, die eine ursächliche Rolle bei einer Reihe von seltenen Erbkrankheiten spielen. Die Ergebnisse haben die Forschenden in der renommierten Fachzeitschrift Nature veröffentlicht.
Fehlfunktionen von FLCVR1 und FLCVR2 aufgrund von Genmutationen verursachen seltene Erkrankungen, die teils schwere Mobilitäts-, Seh- und Empfindungsstörungen hervorrufen – so zum Beispiel die Hirnstrangataxie-Retinitis Pigmentosa, das Fowler-Syndrom oder sensorisch-autonome Neuropathien. Letztere können beispielsweise zum vollständigen Verlust des Schmerzempfindens führen. „Bei vielen Krankheiten, auch bei den seltenen, verändern sich zelluläre Strukturen in unserem Körper und das führt zu Fehlern in biochemischen Prozessen“, sagt Schara Safarian. „Um die Entstehung solcher Erkrankungen zu verstehen und Therapien zu entwickeln, müssen wir wissen, wie diese Proteine auf der molekularen Ebene aufgebaut sind und welche Funktionen sie in gesunden Zellen übernehmen.“
FLCVR1 und FLCVR2 transportieren die Zellbausteine Cholin und Ethanolamin
Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen haben herausgefunden, dass FLCVR 1 und FLCVR2 die Moleküle Cholin und Ethanolamin über die Membran unserer Zellen transportieren. „Cholin und Ethanolamin sind essentiell für wichtige Körperfunktionen. Sie unterstützen das Wachstum, die Regeneration und die Stabilität unserer Zellen, zum Beispiel in Muskeln, inneren Organen und Gehirn“, erklärt Safarian. „Cholin ist auch beteiligt am Fettstoffwechsel und der Entgiftung durch die Leber. Außerdem braucht unser Körper es, um den Neurotransmitter Acetylcholin herzustellen. Dieser ist von zentraler Bedeutung für unser Nervensystem und wird von unserem Gehirn benötigt, um die Organe zu steuern. Da kann man sich vorstellen, dass Fehlfunktionen der FLCVR-Proteine schwere neurologische und muskuläre Störungen hervorrufen können.“
Zur Erforschung der FLCVR-Proteine haben die Forschenden mikroskopische, biochemische und computergestützte Verfahren genutzt. „Wir haben die Proteine schockgefroren und dann im Elektronenmikroskop sichtbar gemacht“, erläutert Di Wu, Forscher am Max-Planck-Institut für Biophysik und Co-Autor der Studie. „Dabei durchdringt ein Elektronenstrahl die gefrorene Probe und durch die Wechselwirkung der Elektronen mit dem Probenmaterial entsteht ein Bild.“ Die Forschenden nehmen viele einzelne Bilder auf und verarbeiten und kombinieren diese am Computer, um hochaufgelöste 3D-Strukturen von Proteinen zu erhalten. So konnten sie auch die Strukturen von FLCVR1 und FLCVR2 abbilden und sehen, wie sie sich in Anwesenheit von Ethanolamin und Cholin verändern. Computersimulationen bestätigten und visualisierten, wie die FLCVR-Proteine mit Ethanolamin und Cholin wechselwirken und dynamisch ihre Struktur verändern, um den Nährstofftransport zu ermöglichen.
Safarian resümiert: „Unsere Erkenntnisse ebnen den Weg, um die Entstehung und den Fortschritt seltener Krankheiten zu untersuchen, die im Zusammenhang mit den FLCVR-Proteinen stehen. So können vielleicht in Zukunft Patientinnen und Patienten von neuen Therapien profitieren, die ihnen ein Stück Lebensqualität zurückgeben.“